Epidemiepolitik: Totalitarismus im Schafs- oder "Wolfspelz"?

Der italienische "Starphilosoph" Giorgio Agamben kann als einer der letzten Vertreter seiner "Art" gelten. Einer "Zunft" von Denkern, deren Beitrag zu einer - ganz allgemein gesprochen - möglichst gedeihlichen Entwicklung der menschlichen Lebensverhältnisse sich nicht in einer intellektuell verbrämten, bloßen "Reproduktion des Bestehenden" erschöpft, wie heute vielfach üblich geworden. "Dissidenten" seiner Art stehen dem Bestehenden (in Agambens Fall sind es v. a. die institutionalisierten Herrschaftsverhältnisse in Kombination mit neuen Technologien) von einem erkenntnistheoretischen "Außen" gegenüber. Die "Transzendenz" besteht darin: zum einen werden in "archäologischer" Perspektive die "inneren" Wirkprinzipien und ‑mechanismen politisch-gesellschaftlicher Entwicklung benannt und damit das Bestehende in seiner historischen Herkunft erst begreifbar zu machen versucht; zum anderen lässt sich auf diesem (und erst auf diesem) Verständnis aufbauend, in extrapolierender Perspektive, vor möglichen, schädlichen zukünftigen Entwicklungen warnen, denen es frühzeitig entgegenzusteuern gilt. So haben es nicht erst seit Beginn des industriekapitalistischen Zeitalters Generationen von Theoretikern und "Berufskritikern" gemacht - um letztlich doch, das muss man zugeben, an den herrschenden Verhältnissen, dem politisch-ökonomischen System (Kapitalismus und Staat), zu scheitern. Zwar setzte sich in den "westlichen" Industrieländern die parlamentarische Demokratie durch, und die "soziale Marktwirtschaft" hat für einen gewissen ökonomischen Ausgleich gesorgt (die Zusammenhänge mit dem "unterentwickelten" Süden bleiben dabei zumeist ausgeblendet), doch scheint auch diese Konstellation auf wackeligen Beinen zu stehen. Auch der nicht-reformistische Weg, der Marxismus, v. a. in seiner "real existierenden" Gestalt, konnte seinem Ziel, die Welt zum Besseren zu verändern, nicht in wünschenswerter Weise gerecht werden - er ließ nicht nur die Technikfrage unbeantwortet, sondern wurde, indem er auf staatliche Apparate setzte, zum autoritären "Staatskapitalismus". Die demgegenüber nicht fortschrittsgläubige (und nicht "konservative", d. h. nicht herrschaftsorientierte) Moderne-Kritik prallt ihrerseits hingegen bis heute an der Wirkmächtigkeit naturwissenschaftlich-technischer Heilsversprechungen ab - wenn man so will am "ständig wachsenden Stahlskelett der Kultur des neuzeitlichen Europa", wie Carl Friedrich von Weizsäcker einst die mathematische Naturwissenschaft bezeichnet hatte, die mit ihrem Reduktionismus und ihrem "Machwillen" die Ausgestaltung sämtlicher gesellschaftlicher Verhältnisse prägt. Dabei wäre eine fundamentale Kritik der herrschenden Gesellschaftsverhältnisse, neben dem politischen insbesondere eine Kritik des Naturverhältnisses (Ökonomie und Technik), heute notwendiger denn je. Denn die saturierte Selbstverständlichkeit des "Spätkapitalismus" der 1970er und 1980er-Jahre scheint sich in den Folgejahrzehnten doch zunehmend verflüchtigt zu haben - Phänomene wie die "Globalisierung", der überbordende Einfluss des Finanzsektors, die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Auflösung des "Mittelstands", das Aufkommen neuer Technologien, die "digitale Revolution" usw. haben eine Reihe neuer Problemfelder eröffnet. Dennoch scheint sich der Widerstand der "Intelligenz" nicht so recht formieren zu wollen. Das Wirken des 79-jährigen Agamben mutet in einer Zeit des "intellektuellen Niedergangs" auch insofern anachronistisch an, als er sich als Universitätsprofessor nicht auf seine rein akademische Tätigkeit reduzieren lässt, sondern immer wieder aktiv zu drängenden gesellschaftlichen und politischen Fragen Stellung bezieht. Dieses Selbstverständnis mag in all jenen, die noch die alte, "eigentliche" Universität vor Augen haben, der es, überspitzt formuliert, um mehr ging als um die möglichst effiziente Produktion fachblinden "Humankapitals", nämlich um "radikal"-kritische, diskursive Gesellschaftsanalyse, das Gefühl der Nostalgie hervorrufen.
Vor dem Hintergrund dieses Selbstverständnisses wundert es auch nicht, dass Agamben einer der ersten war, die sich kritisch zu den gesellschaftlichen Transformationsprozessen äußerten, wie sie mit Beginn der Corona-Pandemie begonnen hatten in rasendem Tempo vonstatten zu gehen. Für Agamben freilich mussten diese Transformationsprozesse, die einen radikalen Wandel der herrschenden Regierungsdispositive mit sich brachten, etwas anderes darstellen als eine mehr oder weniger gelungene, jedenfalls aber verzeihliche, weil plötzlich und aus dem "Nichts" heraus notwendig gewordene Antwort "herrschender Kräfte" auf neue Herausforderungen. Zwar mag es mit dem "Coronavirus" eine neue Herausforderung durchaus gegeben haben, aber die Antworten darauf dürfen, um mit Agamben zu reden, keinesfalls naiv, d. h. fernab aller machtgeschichtlichen Kontinuitäten betrachtet und in jener angeblichen Alternativlosigkeit und "Unschuld" hingenommen werden, in der sie uns verkauft werden. Während andere noch unsicher zu sein scheinen, ist der Fall für Agamben klar: Für die institutionalisierten Mächte war bzw. ist die Pandemie der passende Vorwand zur Einleitung eines Paradigmenwechsels hinsichtlich der Art und Weise, wie Menschen und Dinge zu regieren, zu beherrschen seien. Und zwar deshalb, wie er meint, weil sich die alten Formen als zunehmend untauglich erwiesen hätten. An die Stelle der unter dem Einfluss der neoliberalen Globalisierung zwar ohnehin längst zu scheindemokratischen Oligarchien degenerierten bürgerlichen Demokratien mit ihren Rechten, Parlamenten und Verfassungen, werden, bewusst oder "systemisch" getrieben, neue Dispositive gesetzt, die die bestehende Ordnung unterwandern. Die im Gange befindliche "große Transformation" gründe nämlich nicht, wie Agamben betont, auf einer neuen gesetzlichen Ordnung, sondern sie gehe aus dem "Ausnahmezustand" hervor, d. h. aus der Aufhebung jeglicher verfassungsrechtlichen Garantie. Das neue Regierungsdispositiv laute "Biosicherheit" und entstünde aus der Verbindung einer neuen "Gesundheitsreligion" mit der staatlichen Macht. Indem dieses neue Dispositiv lediglich auf einen Aspekt fokussiere, nämlich auf das "nackte Leben", die vegetative "Gesundheit", sei es zwar unheimlich eng gefasst, praktisch betrachtet aber wahrscheinlich wirkungsvoller als alle vormaligen Versuche der Herrschaftslegitimation. Denn es zeige sich, dass, wenn Menschen glauben gemacht werde, ihre Gesundheit sei bedroht, sie alles hinnähmen und Freiheitseinschränkungen (geradezu intrinsisch motiviert) duldeten, die sie unter dem Joch totalitärer Regime niemals geduldet hätten. Um die ideologische Enge des besagten Regierungsdispositivs zu erläutern, verweist Agamben auf die Tatsache, dass auch Hitler mit Beginn der Machtergreifung 1933 bis zum Ende seiner Herrschaft im Rahmen eines "permanenten Ausnahmezustandes" regierte, ohne die Weimarer Verfassung jemals aufgehoben zu haben. Die scheinbare "Legitimität" dieses Ausnahmezustandes wurde im Unterschied zur "Biosicherheit", bei aller inhaltlichen Falschheit und wirkungsgeschichtlichen Fatalität, geradezu gesamthaft ideologisch begründet (mit der auf Antisemitismus, Rassismus, Sozialdarwinismus usw. fußenden Konstruktion einer angeblichen "Gefahr" durch "internationales Judentum", Bolschewismus usw.). Derartige Vergleiche a priori als "krude" zu bezeichnen, wie es selbstverständlich nicht ausbleiben konnte, hilft im Übrigen beim Verständnis dessen, worum es Agamben im Kern geht, nicht im Geringsten weiter.
2021 veröffentliche Giorgio Agamben einen Textband mit dem Titel "An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik", der Aufsätze und Interviews aus dem Jahr 2020 enthält, d. h. bereits aus dem ersten Jahr der Corona-Pandemie. Aus diesen Texten, die nachfolgend rekapituliert werden sollen, lassen sich meines Erachtens sechs zentrale Fragen sowie die dazugehörigen Antworten ableiten: 1) Warum kommt es angesichts der Pandemie zu der angesprochenen "großen Transformation" bzw. welches politische "Kalkül" steckt dahinter? 2) Wie verändern sich die Lebensverhältnisse der Menschen im Zuge dieser Transformation? 3) Welches sind die maßgeblichen Akteure dieser Transformation? 4) Worin besteht dabei die Rolle der Politik? 5) Was wird nach der Pandemie jedenfalls bleiben? 6) Wie kann ein möglicher Widerstand dagegen aussehen?
Eines Tages, nachdem die Historiker die reale Dimension der Pandemie durchleuchtet haben werden, wird uns diese Zeit als eine der wahrscheinlich schäbigsten [...] der [...] Geschichte erscheinen, und diejenigen, die das Land regiert und geleitet haben, als unverantwortliche, skrupellose Gestalten, die abseits jedes ethischen Rahmens handelten.
An welchem Punkt stehen wir? S. 10
Aber der Reihe nach: Die institutionalisierten Mächte
seien, schreibt Agamben, seit Jahrzehnten von einer "Legitimitätskrise"
bedroht. Es darf angenommen werden, dass damit ganz allgemein die Tatsache der
zunehmenden Unfähigkeit des herrschenden politisch-ökonomischen Systems
angesprochen ist, den tatsächlichen Interessen der Menschen, einem mit Sinn erfüllten Leben in Freiheit,
noch gerecht werden zu können. In zunehmendem Maße scheint sich bei vielen die
Erkenntnis durchzusetzen, dass weder die bürgerlichen, zutiefst von
Kapitalinteressen geprägten Parteiendemokratien, noch die kapitalistische Ökonomie
insgesamt mit ihren sozialen, kulturellen und ökologischen Verwerfungen, in der
Lage sein werden, eine wirklich nachhaltige Perspektive in diesem Sinne
anzubieten. Dem schwindenden Glauben nicht nur der ökonomisch
Unterprivilegierten in das herrschende System und seine Institutionen, die
eigentlich um derentwillen da sein sollten, kann auf der anderen Seite, von den
institutionalisierten Mächten und ihren Nutznießern aus betrachtet, nur dadurch
begegnet werden, dass ein Zustand geschaffen wird, der die etablierten Verhältnisse tatsächlich (wieder) als notwendig erscheinen
lässt - und zwar deshalb, weil sie als in der Lage befindlich begriffen werden
können, die angesprochenen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Da dies der
"sozialen Marktwirtschaft" in weiten Teilen der "westlichen" Welt zumindest im
Hinblick auf die ökonomischen Bedürfnisse einigermaßen gelungen zu sein
scheint, bleiben zur Herbeiführung eines solchen Zustands die
Sicherheitsbedürfnisse im klassischen Sinne. Folgt man dabei der Argumentation
Agambens, dem bedeutendsten Theoretiker der Staatskrisen, besteht das
probateste Mittel zu dessen Herbeiführung in der Schaffung eines (möglichst
dauerhaften) Notstandes, durch den ein Sicherheitsbedürfnis geweckt werde, auf dessen
Basis sich Macht- und Herrschaftsinteressen (erneut) durchsetzen ließen. Dabei
scheint es stets das mit der menschlichen Existenz, d. h. letztlich mit dem
Wissen um den eigenen Tod und die Endlichkeit des irdischen Lebens untrennbar
verknüpfte Phänomen der Angst zu
sein, das sich vortrefflich für Zwecke sicherheitspolitischer Natur
instrumentalisieren lässt. Wie die Corona-Pandemie zeigt, können aus dieser
bewusst geschürten bzw. verstärkten existentiellen Angst hervorgehende
Sicherheitsbedürfnisse weit über die bislang gekannten und von der Politik
bedienten hinausgehen - man hat nicht mehr nur Angst vor Terroristen, vor
Einwanderern, vor Verbrechern aller Art oder dem nebulösen Verlust einer nur
durch staatliche Gewalt sicherzustellenden "Ordnung" überhaupt, sondern nunmehr
auch vor Viren und Bakterien, die zu einer kollektiven Bedrohung werden, der es
im Rahmen einer über-individuellen, gesamtgesellschaftlich angelegten
Kraftanstrengung zu begegnen gelte. In diesem Sinne werde von den staatlichen
Institutionen und den regierungsabhängigen Medien "Panik" verbreitet, um, auf
der vorhandenen, dadurch aber erheblich verstärkten Angst der Menschen
gründend, einen Ausnahmezustand zu errichten, der die normalen Lebens- und
Arbeitsbedingungen weitestgehend aussetze.
Das Ergebnis ist eine perverse Selbstreferenzialität: Die von den Regierungen verordneten Freiheitsbeschränkungen werden von der Bevölkerung im Namen eines Sicherheitsbedürfnisses angenommen, das die Regierungen selbst herbeigeführt haben, um es mit ihren Eingriffen in die Freiheit bedienen zu können.
An welchem Punkt stehen wir? S. 19
Der "Ausnahmezustand", konstatiert Agamben, werde in diesem
Sinne zunehmend als probates Regierungsparadigma betrachtet und eingesetzt.
Nach dem Versiegen des Terrorismus (er hat den italienischen Terrorismus der
1970er und 1980er-Jahre im Blick) werde die Epidemie zur vornehmlichen Quelle
für "außerordentliche Maßnahmen". Was aber kann als das tatsächlich
zugrundeliegende, "tiefere" politische "Kalkül" dahinter gelten? Hier scheint
eine genauere Betrachtung des Begriffs des "Politischen" vonnöten. Denn das,
was darunter gemeinhin verstanden wird, nämlich die Gesamtheit aller Akteure
der etablierten politischen Institutionen - "Politiker" im Sinne von
Abgeordneten, Regierungsmitgliedern, Staatsoberhäuptern usw. - hat bereits seit
langem, verstärkt mit dem durchschlagenden Erfolg der "Globalisierung",
seine vormalige Rolle als "gestaltende
Kraft" zugunsten des Einflusses ökonomisch-technisch-wissenschaftlicher
"Eliten" eingebüßt. Im Zuge dieser "Entbettung" der Wirtschaft aus der
Gesellschaft (K. Polanyi) sind "Politiker" zunehmend zu Erfüllungsgehilfen
oder, forsch formuliert, zu "Marionetten" eines als autonom imaginierten,
gleichsam von selbst ablaufenden Prozesses geworden, der im Rahmen der
unangezweifelten Modernisierungsagenda in mehr oder
weniger "moderierter" Weise seinem teleologischen Höhepunkt entgegenzusteuern
scheint. In dieser "systemischen" Gestaltungsbewegung gerät zunehmend alles
"Politische" - und damit auch der ganzheitlich verstandene Mensch als
geistbegabtes, eigenständig (politisch) denkendes Individuum - unter die Räder
einer technokratischen Fremdherrschaft, der die "Politiker" willfährig Vorschub
leisten. Damit aber wird die "Politik" im landläufig verstandenen Sinne des
Begriffs zu einer Art "Nicht-Politik", der es, so paradox es klingen mag,
gerade um die Abschaffung alles "Politischen" geht. Das Ziel ist die Schaffung
einer apolitischen, "domestizierten" Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist,
den Interessen des "Systems" relevanten Widerstand entgegenzubringen. Vor
diesem Hintergrund scheint es schwierig, im Hinblick auf die gegenwärtigen
Transformationsprozesse überhaupt noch von "politischem Kalkül" zu sprechen,
denn das von den Interessen der ökonomischen "Eliten" dominierte "System"
bedient sich lediglich noch der vorhandenen "formalen Hülsen" der "Politik" im
Sinne der etablierten Institutionen (Parlamente, Regierungen, Verwaltungen usw.).
Die Institutionen ihrerseits werden mit Funktionären besetzt, deren
gesellschaftspolitisches Gestaltungsinteresse oft genug in banalem
Eigeninteresse steckenbleibt (systemimmanente "Korruption"). Während damit die Ebene
formalisierter Politik machtlos scheint, soll nun zunehmend auch außerhalb
dieser Sphäre die gesamte Menschheit zu einer unpolitischen werden (vgl. "Corona" und der Niedergang des bürgerlichen
Individuums). Der Weg zu dieser "Entpolitisierung" führt Agamben zufolge
über die Durchsetzung des Regierungsdispositivs der "Biosicherheit" und des
damit einhergehenden Imperativs der "sozialen
Distanzierung" - wohlgemerkt, wie er betont, der sozialen (!), nicht etwa der "persönlichen" oder "physischen"
Distanzierung, wie es aus medizinischen Gesichtspunkten allenfalls als
notwendig erscheinen könnte. Denn nur in der sozialen Zusammenkunft ist Politik
möglich, kann der ganzheitliche (politisch-soziale) Mensch seinem Wesen
entsprechend leben, und folglich kann nur durch das sukzessive Unterbinden
dieser persönlichen Zusammenkunft und die Verlagerung sozialer Interaktion ins
Virtuelle eine menschliche und damit "politische" Gesellschaft untergraben
werden. In einer Analyse der Implikationen des neu aufgetretenen Phänomens des
"social distancing" verbindet sich
somit die Frage nach dem "politischen Kalkül" mit jener nach den veränderten
Lebensverhältnissen der Menschen in einer transformierten Welt.
Man könnte meinen, dass die Menschen an nichts mehr glauben, außer an das nackte biologische Leben, das es um jeden Preis zu retten gilt. Aber auf der Angst, das Leben zu verlieren, lässt sich einzig und allein eine Tyrannei errichten, der monströse Leviathan mit dem gezückten Schwert.
An welchem Punkt stehen wir? S. 36f
Da sich die "Gesundheit" des Einzelnen als vulnerabler,
wenn man so will: "archimedischer" Punkt erwiesen hat, durch den sich die
Grund- und Freiheitsrechte und mit diesen die bestehenden Verfassungsordnungen
"aushebeln" lassen, um eine möglichst breit angelegte Subordination der ehemals
"bürgerlichen Individuen" unter ein wie auch immer geartetes
"Allgemeininteresse" zu erzwingen, wird die "Notwendigkeit" der Einschränkung
sozialer Interaktion "gesundheitlich" bzw. gesundheitspolitisch argumentiert.
Aus dem Recht auf Gesundheit werde im Rahmen eines neuen "Gesundheitsterrors"
die Pflicht zur Gesundheit. Wenn aber
der Mensch in seiner bisherigen Gestalt, d. h. als ganzheitlich verstandenes,
leibliches, aus Körper und Geist
bestehendes und somit nicht auf einen bloßen Organismus reduzierbares Wesen,
abgeschafft werden soll, und mit ihm alles Politische, dann kann folgerichtig
unter "Gesundheit" nur das bloße "Nicht-Sterben" um jeden Preis begriffen werden. Die Menschen als biologische Entitäten müssen im doppelten Sinne des Wortes "vegetieren" - sie müssen,
rein organisch betrachtet, "leben", dürfen sich darüber hinaus aber kaum
entfalten. Eine derart dehumanisierte "Gesellschaft" (als Gesamtheit
biologischer Entitäten) glaube an nichts mehr als an das "nackte Leben", von
dem alles Geistige und damit alles genuin Menschliche, d. h. alles Politische,
Kulturelle, Spirituelle usw. abgezogen worden sei. Dafür seien die Menschen bereit,
alles zu opfern: Die normalen Lebensbedingungen, die sozialen Beziehungen, die
Arbeit, die Freundschaften, die Gefühle, die politischen Überzeugungen. Der
"Andere", der Mitmensch - und nicht zuletzt eben auch der politische
Mitstreiter -, komme unter diesen Rahmenbedingungen lediglich noch als
potentieller "Krankheitsüberträger" in den Blick. Zudem gewöhnten sich mit
Andauern des Ausnahmezustandes die Menschen allmählich an diesen, der immer
mehr zu ihrem Normalzustand werde. Viele merkten dabei nicht, dass ihr Leben
auf eine rein biologische Funktion reduziert werde. Besorgniserregend sei dabei
nicht nur die Gegenwart, sondern vor allem die Zukunft. Denn alle Kriege
hätten, sagt Agamben, immer unheilvolle Technologien hinterlassen. Dass dabei
die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus von denjenigen, die sie zu
verantworten haben, selbst als "Krieg" aufgefasst werden, ist mittlerweile
unübersehbar. Längst bilden hochrangige Militärs mit Tarnanzügen neue Einheiten
und "Task Forces" zur Virusbekämpfung und treten martialisch auf. Als "Waffen"
in diesem Krieg gelten neue Impfstoffe und digitale Einrichtungen der
Massenüberwachung.
Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die Abschaffung des öffentlichen Raums in seiner Gesamtheit.
An welchem Punkt stehen wir? S. 29
Der neue "Leviathan", der Kontrollstaat, nimmt die Gestalt
eines "digitalisierten Totalitarismus" an. Führende Tech-Unternehmen arbeiten
unter Hochdruck an imaginären Welten, in die sich die Menschen im Sinne der
Virtualisierung "sozialer" Interaktion begeben sollen. Jüngst wurden
Chipimplantate präsentiert, die, eingepflanzt in das menschliche Gehirn, eine
effizientere Interaktion in diesen Computerwelten gewährleisten sollen. Es
handelt sich dabei längst nicht mehr um Science-Fiction. Der "Transhumanismus"
ist zu einer veritablen ökonomischen und gesellschaftlich-kulturellen Einflussgröße
geworden. Was bei der Flucht in diese scheinbar "besseren Welten" aus dem Blick
verloren wird bzw. aus dem Blick verloren werden soll, ist das Interesse daran,
die real existierenden, herrschenden Gesellschaftsverhältnisse selbst einer
Kritik zu unterziehen bzw. diese zu verändern oder zu verbessern. Der perfide,
selbstreferentielle Zusammenhang besteht auch hier darin, dass es das
spürbare Unbehagen vieler Menschen innerhalb der herrschenden Realverhältnisse
ist, das sie aus scheinbarem Eigeninteresse heraus gleichsam "eskapistisch" ins
Virtuelle Zuflucht nehmen lässt. Die digitalen Technologien der letzten
Jahrzehnte haben dafür die Voraussetzungen geschaffen. Sie ebnen als
Schnittstelle für ein neues, "fortschrittliches" Mensch-Maschine-Verhältnis den
Weg in eine totalitäre Zukunft. Denn die Kontrolle durch Videokameras,
Smartphones und andere digitale Einrichtungen übertreffe, sagt Agamben, in
ihren technischen Möglichkeiten die von den totalitären Regimen des 20.
Jahrhunderts praktizierten Kontrolltechniken bei weitem. Es sei unbestritten,
dass die Epidemie bspw. dem totalitären Regime Chinas ein hervorragendes
Instrument geliefert habe, die Überwachung ganzer Regionen zu erproben. Dass
manche heute in Europa auf China als Vorbild blickten, zeige das ganze Ausmaß
politischer Verantwortungslosigkeit. Wie angesichts des Terrorismus behauptet
wurde, dass man die Freiheit aufgeben solle, um sie besser zu verteidigen, so
höre man heute, dass man das Leben suspendieren müsse, um es besser zu schützen.
In diesem Zusammenhang kann darauf hingewiesen werden, dass der neue,
digitalisierte "Leviathan" auf ein solides, historisch gewachsenes Fundament verweisen
kann, das dessen weitgehend widerstandslose Durchsetzung erst ermöglichte: Denn
jene Personen, die man als "Konservative" zu bezeichnen pflegt, haben, nicht
zuletzt auf ihrer negativen Anthropologie fußend, eine gleichsam "angeborene"
Affinität zum Kontrollstaat; die zum überwiegenden Teil herrschafts- bzw.
staatsfixierten "Progressiven" scheinen ihrerseits vor allem von dessen
"wissenschaftlicher" Gewandung fasziniert. Übrig bleiben vorerst jene
Minoritäten, die sich - sowohl zur "Linken" wie zur "Rechten" - die Freiheit
und die Demokratie auf ihre Fahnen schreiben, während die (a)politische Mitte,
in einer eigentümlichen "Schlaftrunkenheit" befangen, zunehmend gefährlich
geworden zu sein scheint.
Die Demokratie überlässt [...] ihren Platz einem neuen Despotismus, der hinsichtlich der Allgegenwart seiner Kontrollen und des abrupten Endes jedweder politischen Aktivität schlimmer sein könnte oder dürfte als die totalitären Systeme, die wir bisher kannten.
An welchem Punkt stehen wir? S. 65
Es ist bezeichnend, dass es ausgerechnet die Universitäten
waren - ehemals jene kritischen Instanzen, die ein geisteswissenschaftliches
Korrektiv für bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen bildeten -, die sich
als erste und entschlossenste Verfechter des neuen Regierungsdispositivs in
Stellung gebracht hatten, um in unterwürfigem Gestus der "Entpolitisierung" der
Gesellschaft durch die bedingungslose Übernahme des Distanzierungs-Imperativs
Vorschub zu leisten. Mit wenigen Ausnahmen hätten sich, sagt Agamben, die
Rektoren und Professoren ganz und gar dem Diktat der "telematischen Diktatur" in
Form der unpersönlichen "Fernlehre" verschrieben. Damit einher gehe auch die
bedauerliche Auslöschung des Studierens als "Lebensart". Dass es gerade die
Professoren waren, die angesichts der heraufziehenden "großen Transformation"
das geringste kritische Potential an den Tag legten, wundert insofern nicht,
als es sich bei dieser selbsternannten "Bildungselite" um die "Speerspitze"
jener disziplinären "Wissenschaft" handelt, die, in enger
Verflechtung mit den ökonomischen "Eliten" (nicht selten deren Geldgeber), das
aktive, dynamische Zentrum der "Modernisierung" bildet. Im Zuge dieser
sakrosankten Entwicklung namens "Modernisierung", die mit einer technologisch
betriebenen Entmündigung des "Bürgers" einhergeht, muss alle Wissenschaft zur
mathematisch reduzierten, materialistischen Naturwissenschaft werden. Die
Geisteswissenschaften verkommen unter dem szientistischen Dogma zum bloßen
"Bibliothekarswesen" (R. Sieferle) der von den Naturwissenschaften getragenen historischen "Fortschrittsbewegung". Dieser Tendenz sei, ihrer ganzen Blendkraft zum Trotz,
das Wort Heideggers in Erinnerung gerufen, wonach das Denken endet, wenn die
Philosophie in den Wissenschaften aufgeht.
Aber auch die Kirche habe angesichts der Auslöschung des Mitmenschen im Zuge der Corona-Politik radikal ihre Prinzipien verleugnet. Agamben stört vor allem die Tatsache, dass selbst den Toten - "unseren Toten, die uns lieb und teuer sind", wie er sagt - kein Anrecht mehr auf eine würdevolle Beerdigung gewährt worden sei. Die Kirche unter Papst Franziskus habe vergessen, dass sein historischer Namensgeber die Leprakranken umarmte. Die Kirche hätte die Aufgabe gehabt, über die Würde des Menschen zu wachen. Stattdessen habe sie sich zur "Magd der Wissenschaft" gemacht, der neuen Religion unserer Zeit, und sich damit nicht zum ersten Mal selbst verleugnet. Immerhin war es der Vatikan, der als einer der ersten "Staaten" überhaupt eine Impfpflicht sowie eine strenges Distanzierungsregime durchsetzte, um unterdessen in der ganzen Welt für diese undemokratische Vorgangsweise zu werben. Nur nebenbei sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass das "institutionalisierte Christentum" mit seiner dualistisch-theistischen, von Trennungen und Angst geprägten Theologie selbst über Jahrhunderte den fruchtbaren Boden für die Empfänglichkeit der Menschen gegenüber der "Heilslehre" der modernen Wissenschaft gelegt hat. Wer keine verbindende Metaphysik, keine "Einheitsmetaphysik", besitzt, die das Leben und den Tod zu verbinden und folglich Angst zu nehmen vermag, der muss fast zwangsläufig eine ängstliche, autoritätsgläubige, abhängige Persönlichkeit ausbilden, die überall nach einer führenden Hand Ausschau hält, die regiert und gelenkt werden will. Nicht nur der Staat, auch die Kirche als profane Machtinstitution war zur Absicherung ihrer Einflusssphäre von Beginn an auf diese Art von "negativer Psychologie" angewiesen. Agamben weist unter Rekurs auf Heidegger darauf hin, dass der auf "Heilsgewissheit" angelegte christliche Mensch folgerichtig besonders anfällig für naturwissenschaftliche Versprechungen sei und in der Wissenschaft gleichsam seine "Erlösung" zu finden glaube. Demnach können einzelne Erscheinungen der Neuzeit zweifellos als eine Art "Säkularisierung" des Christentums gedeutet werden.
[Die Kirche] hat vergessen, dass eines der Werke der Barmherzigkeit darin besteht, die Kranken zu besuchen. Sie hat vergessen, dass die Martyrien die Bereitschaft lehren, eher das Leben als den Glauben zu opfern, und dass auf die Nächsten zu verzichten bedeutet, auf den Glauben zu verzichten.
An welchem Punkt stehen wir? S. 55
Diese Feststellung führt uns nahtlos zur Frage nach den
wesentlichen Akteuren der "großen Transformation". Als Hauptakteur fungiert
Agamben zufolge die Wissenschaft - und zwar, stärker als jemals zuvor, als "Religion". War die neuzeitliche, an der
Mathematik orientierte, disziplinär "entstellte" (Natur)Wissenschaft ihrem
Wesen nach immer schon ein Unterfangen, an das die im genannten Sinne
Präkonditionierten, die sich nicht selten als "Atheisten" bezeichnen,
inbrünstig und unbedingt "glaubten", so ist diese Wissenschaft mit Beginn der
Pandemie vollends in die Sphäre des "Religiösen" abgeglitten. Und zwar deshalb,
weil sie, wenn man so will, nicht mehr als ein eng abgestecktes, durch ihre
eigenen Methoden und Verfahrensweisen von anderen eindeutig unterscheidbares
gesellschaftliches "Subsystem" in Erscheinung tritt, sozusagen als eine
"Religion" unter vielen, sondern eine gleichsam hegemoniale Stellung
eingenommen hat, innerhalb welcher ihr der Nimbus zuteil wird, für die
Beantwortung schlechthin aller gesellschaftlicher Fragen zuständig zu sein. Der
Preis dieser neuen, quasi-religiösen Allzuständigkeit besteht darin, dass sie
ihre ehemalige "Identität" in Form einer "exklusiven" "Rationalität" eingebüßt hat. Die neue "religiös-wissenschaftliche"
Unwissenschaftlichkeit habe sich etwa darin gezeigt, dass die Corona-Zahlen,
wie Agamben nachzuweisen versucht, bei streng wissenschaftlicher
Betrachtungsweise zu keinem Zeitpunkt die drakonischen Grund- und
Freiheitseinschränkungen gerechtfertigt hätten. Weil sich aber im Zeitalter der
"Wissenschaftsreligion" alle Maßnahmen "wissenschaftlich" zu rechtfertigen haben,
konnte es nicht ausbleiben, dass sich zur Durchsetzung opportuner Interessen
die scheinbare Notwendigkeit entwickeln musste, allerorts willfährige
"Experten" vor die Mikrofone zu zerren. Den Hintergrund bildet auch hier das
völlige Verschwinden des "Politikers" mit ethischem Urteilsvermögen. So
entstehe eine Technokratie, in der Ärzte und Wissenschaftler über Sachverhalte
entscheiden, die zuletzt ethischer oder politischer Natur sind. Als Konsequenz
erleben wir einen massiven "Imageschaden" nicht nur der Politik, sondern auch
der Wissenschaft, die es angesichts der ihr zugedachten neuen Rolle
nicht zustande bringt, der Abschaffung ihrer wesentlichsten Prinzipien, dem
wissenschaftlichen Diskurs und dem Meinungspluralismus, Einhalt zu gebieten. Es
entsteht eine neue Art von wissenschaftlicher "Nomenklatura", die abtrünnige
Nicht-Ideologen massiv unter Druck setzt. Insgesamt werden unter der Ägide der
"Biosicherheit" die Wissenschaftler und ihre "Mägde", die Nicht-Politiker, die
Kapitalisten und die Kirchenvertreter, von vielen als eine neue Art von "Superreligion"
mit regelrechtem "Verschwörungscharakter" wahrgenommen, die sich über alle ehemals
vorhandenen gesellschaftlichen Korrektive widerstandslos hinwegsetzt. So scheint
es keine gesamtgesellschaftlichen Interessensabwägungen mehr zu geben, etwa im
Sinne einer ethischen Verortung der Technologiefrage. Vielmehr hätten unter dem
herrschenden Dispositiv die drei Glaubenssysteme des Westens (Christentum,
Kapitalismus und Wissenschaft) unter der Oberhoheit der Wissenschaft ihre
"Kriegsbeile" begraben und sich zu einer echten Zusammenarbeit im Namen
gemeinsamer Interessen verbunden.
Die neue "Wissenschaftsreligion" könne dabei, betont Agamben, wie jede Religion Aberglauben und Angst hervorbringen. Es gäbe auch in ihr einige Häretiker (von Beginn an gab es abweichend sich äußernde Wissenschaftler) und Vertreter der "Orthodoxie", die sich die Gunst der "Monarchen" sicherten und in Pandemiezeiten die Expertenbeiräte und -gremien füllten. Hinsichtlich der "kultischen Praxis" habe sich die Wissenschaft gegenüber den anderen Religionen eindeutig durchgesetzt. Die kultische Sphäre, in der sich ihre rigorose Dogmatik äußere, sei die Technologie. Dies komme vor allem in der pragmatisch orientieren Medizin deutlich zum Ausdruck, die ihre Grundbegriffe religiös-dualistisch formuliere: auf der einen Seite gibt es ein "böses Prinzip", die Krankheit, deren verborgene Wirkkräfte die Bakterien und Viren seien, auf der anderen Seite einen Gott, ein "gutes Prinzip", die Heilung, das als seine Kultdiener die Ärzte (jedenfalls die nicht abtrünnigen) habe. Die Theologen unter den Ärzten seien die Virologen. Zwar hatte die moderne Wissenschaft in ihrer materialistischen Grundausrichtung seit jeher das Problem, den Menschen qua Methode nicht ganzheitlich erfassen zu können und folglich die Einheit der menschlichen Lebenserfahrung, die immer zugleich körperlich und geistig sei, zu trennen. Die moderne Medizin aber habe diese Spaltung, diese Abstraktion, perfektioniert. Jedenfalls für die "Schulmedizin" darf behauptet werden, dass sie den Menschen tendenziell eindimensional körperlich in Beschlag nimmt. Der dieser Sichtweise zugrundeliegende eingeschränkte Begriff von "Leben" als rein "vegetatives" präge die von der "Gesundheitsreligion" beherrschte Gesellschaft in Pandemiezeiten zutiefst. Dabei lasse sich das eingeschränkte Verständnis darüber, was das Leben des Menschen ausmache, anhand der Tatsache illustrieren, dass die Medizin in der Lage sei, den menschlichen Körper durch technische Geräte in einem solchen Zustand des vegetativen "Lebens" zu halten. Dieser individuelle Zustand der Scheinlebendigkeit werde unter der Herrschaft der "Wissenschaftsreligion" zum kollektiven, die "soziale Distanzierung" biologischer Entitäten zum neuen Organisationsprinzip der Gesellschaft mit der Folge ihrer Entkulturalisierung und Entpolitisierung. Noch nie in der Geschichte, sagt Agamben, auch nicht im Faschismus und den beiden Weltkriegen, hätten die zu dieser "Scheinlebendigkeit" führenden Freiheitseinschränkungen ein solches Ausmaß angenommen wie heute.
Die bedingungslose Aufrechterhaltung eines nackten, vom sozialen Leben künstlich abgespaltenen Lebens ist die eindrücklichste Tatsache des neuen von der Medizin (als Religion) errichteten Kults.
An welchem Punkt stehen wir? S. 101
Während die Wissenschaft das Dispositiv der "Biosicherheit"
hofiere, bestünde das korrespondierende juristisch-politische Dispositiv im
"Ausnahmezustand", der auf der sozialen Ebene über die digitalen Technologien
wirke und seinen Ausdruck im "social
distancing" finde. Das gemeinsame Interesse der verschiedenen Akteure
bestehe darin, die Menschen zur Festigung und Durchsetzung von Kontroll- und
Machterhaltungsinteressen in Abhängigkeit und Angst zu halten. Die anderen
Religionen träten dabei gegenüber der Wissenschaft zurück: die Kirche
verleugne, wie bereits erwähnt, ihre Prinzipien. Der Kapitalismus nehme seinerseits
massive Produktivitätsverluste in Kauf, trage alle Einschränkungen und
"Lockdowns" (zähneknirschend) mit, wohl aber in der Hoffnung, wie Agamben
andeutet, sich später mit der neuen "Religion" zu einigen. Denn auch die
Ökonomie bedarf ständig neuer Abhängigkeitsformen, die sich über digitale Technologien durchsetzen lassen (digitales Geld, Technologien zur Nachverfolgung wirtschaftlicher Bewegungen, Produktion
zielgerichteter Reklame usw.). Die Rolle der Politik bestehe
in der gegenwärtigen Gesamtkonstellation lediglich noch darin, ihre Macht zur
Durchsetzung des neuen Dispositivs zur Verfügung zu stellen und die Einhaltung
des Distanzierungsregimes sicherzustellen. Dabei habe bislang die sanitäre
Sicherheit in der Politik keine große Rolle gespielt. Sie sei aber deshalb
"verführerisch" und wirkmächtig, weil sich auf ihr eine lückenlose
Reglementierung der Bevölkerung durchsetzen ließe. Und so schwebe seit geraumer
Zeit das Damoklesschwert diverser worst-case-Szenarien,
wie sie von namhaften Organisationen wie etwa der WHO und ihren Sponsoren
entworfen würden, über der Weltgesellschaft. Die Gefahr eines neuen, noch
gefährlicheren Virus sei allgegenwärtig. Durch das derartige Verbreiten von
Angst und Schrecken werde versucht, die Zustimmung der Bevölkerung für allerhand "Gegenmaßnahmen" zu bewirken. Ein neuer überspitzter Bürgersinn
etabliere sich, der die Teilnahme am Konzept der Gesundheitspflicht zur Tugend
erhebe. Zwar leben wir ohnehin in Zeiten des fortschreitenden Niedergangs
politischer Ideologien. Doch durch das neue Regierungsparadigma lasse sich die vollständige
Einstellung jedweder politischen Aktivität herbeiführen. Diese Inaktivität
gelte zunehmend als höchste Form der Bürgerbeteiligung. Zwar dürfte die
Umsetzung dieses Vorhabens vorerst daran gescheitert sein, dass es hierfür letztlich eines
vollständig gleichgeschalteten Mediensystems bedarf, wobei die
regierungsabhängigen Medien im Zeitalter des Internets (trotz weitreichender
Zensur desselben) vorerst kein ausreichendes Instrument geboten haben dürften. Doch nicht alle Versuche zur Erzeugung eines unkritischen "Konformismus" haben ihre Wirkung verfehlt. Es
ist zu weiten Teilen ein "braver", neuer Bürgertypus entstanden, der sich unbedarft in die "Diktatur" eingliedert.
Die neue "Tugendhaftigkeit" kann etwa bedeuten, dass man sich elektronische
Geräte an die Kleidung heftet, die ein akustisches Signal erzeugen, sobald ein
Mitmensch in die "gefährliche" Sphäre eindringt, die je nach Bedarf zwischen
zwei und 4,5 Metern schwankt (jedenfalls scheinen diese Maße für Italien ihre Gültigkeit zu haben).
Besonders verstörend sei die Tatsache, dass auch Institutionen und Parteien, die man ehemals als "links" bezeichnet hat und die dafür bekannt waren, Rechte einzufordern, nunmehr Regierungsverordnungen unterstützten, von denen nicht einmal der Faschismus zu träumen gewagt hätte. Auch die Sozialdemokratie, die sich eigentlich einer "antifaschistischen" Tradition verpflichtet sieht oder jedenfalls sehen sollte, forciert ungeniert den neuen "Totalitarismus" und macht zunehmend die Epidemie zum bevorzugten Terrain ihrer Politik. Vergessen werde dabei nur zu gern die Tatsache, dass die Tendenz, das Leben in den Geltungsbereich des Rechts und der Politik zu inkludieren, wie es seit den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert der Fall gewesen sei, sehr schnell ins Negative abdriften könne. Wenn nämlich das Leben einmal zum Spielball der Politik geworden sei, könne dieses entweder "geschützt" oder ausgeschlossen werden. Dies könne bis hin zur Vorstellung eines "lebensunwerten Lebens" reichen. Letztlich hätten die Nationalsozialisten diese Art von "Biopolitik" erfunden. Ihre eugenischen Maßnahmen seien das erste Beispiel einer Gesetzgebung gewesen, die sich programmatisch der Gesundheit der Bevölkerung angenommen habe.
Es ist überflüssig zu erwähnen, dass es nur einen anderen Ort gab, an dem die Menschen auf ihre rein vegetative Substanz reduziert wurden, und das waren die nationalsozialistischen Konzentrationslager.
An welchem Punkt stehen wir? S. 61
Was auch nach der Pandemie auf jeden Fall bleibe, sei das Paradigma der "sozialen Distanzierung". Durch die digitalen Geräte war dieses Prinzip bereits in gewisser Hinsicht da und konnte deshalb so problemlos umgesetzt werden. Und auch wenn bspw. zivilgesellschaftlicher Druck dazu führen sollte, dass die derzeitigen Freiheitseinschränkungen zumindest vorübergehend und teilweise zurückgenommen werden, so wird durch den Fortschritt der Technologien die Virtualisierung der sozialen Interaktion weitergehen. Dabei wird durch die Technologie und die Wissenschaft die Souveränität immer weiter ausgehöhlt. Der politische Körper werde zum biologischen Körper - individuell und gesamtgesellschaftlich betrachtet. Die gesamte Gesellschaft werde zum "Reanimationsraum", Bürger würden unter Abstraktion des Geistigen, Affektiven, Sozialen im Zustand eines vegetativen Lebens gehalten. Der künstlich zwischen Leben und Tod schwebende Körper sei schon jetzt zum neuen politischen Paradigma geworden. In diesem neuen politischen Körper sei der auf Menschenrechte gegründete Staatsbürger selbst zum Feind mutiert. Staatsbürgerschaft werde zum passiven Gegenstand von Pflege, Überwachung und Misstrauen - und zwar in globalem Maßstab (möglicherweise verwechselt die autoritäre "Linke" diese Form der Globalisierung mit einem neuen, wünschenswerten Internationalismus). Der Staat aber werde dennoch nicht verschwinden, sondern sich den neuen Konstellationen anpassen, weil er zur Umsetzung der neuen Dispositive benötigt werde. Er habe, sagt Agamben, immer schon mit neuen Kräften (z. B. der Marktideologie) koexistiert. Das bipolare System Regierung/Kapital werde weiter existieren, nur unter neuen Vorzeichen.
Ein aufmerksamer Beobachter kann heute nur schwer feststellen, ob wir in Europa in einer Demokratie leben, die zu immer despotischeren Formen der Überwachung greift, oder in einem totalitären Staat, der sich als Demokratie verkleidet.
An welchem Punkt stehen wir? S. 111
Zur Frage des Widerstandes ist abschließend zu sagen, dass eine zukünftige Politik nur jenseits dieser beiden Modelle entstehen wird können. Es müsse, sagt Agamben, etwas Neues geschaffen werden, das nicht zwischen "Demokratie" und "totalitärem Despotismus" oszilliere. Derzeit, in Pandemiezeiten, so darf man dem Italiener in den Mund legen, zeigt sich der "Totalitarismus" wohl eher im "Wolfspelz" als im Schafspelz. Man mag bei der Frage nach Widerstandsformen an Begriffe wie "Subsistenz", "Dezentralisierung", "Regionalisierung" oder "direkte Demokratie" denken. Das alte politische Links-Rechts-Schema habe jedenfalls seinen Orientierungsmaßstab vollständig eingebüßt. Auch von den Universitäten sei, wie eingangs bereits erwähnt, nichts zu erwarten, wenngleich es um den Niedergang der von Korruption und Fachblindheit geprägten Universität ohnehin nicht schade sei.
Letztlich, so meine ich, braucht es einen Menschen, der weniger Angst hat bzw. dem weniger Angst gemacht
werden kann. Dieser Mensch kann sich selbst schaffen, indem er sich ein eigenes,
starkes metaphysisches Fundament aneignet, durch das ein Vertrauen in
die Einheit von Leben und Tod entsteht. Dies kann die Abkehr von der
Kirche bedeuten, denn eine nicht ängstigende Form von Transzendenz und
Spiritualität muss jenseits weltlicher Machtinstitutionen angesiedelt sein. Auch
wenn das Sterben nicht "heroisiert" werden soll, so soll auch das Leben nicht reduziert
werden. In diesem Sinne wird man ein starkes inneres Fundament erreicht haben,
wenn man sich in der Lage sieht, auf die Frage nach der Angst in großer Lebensorientierung, wie es auch
Agamben tut, mit Montaigne zu antworten: "Es ist ungewiss, ob der Tod uns
erwartet; erwarten wir ihn überall! Die Besinnung auf den Tod ist Besinnung auf
die Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt. Die Kunst zu
sterben befreit uns von aller Unterwürfigkeit und allem Zwang."
Wir erleben
derzeit, dass der Versuch der Entpolitisierung der Gesellschaft scheitert. Auf
der ganzen Welt passiert gerade das Gegenteil: Es kommt zu Massendemonstrationen und demokratischem Widerstand. Es findet eine regelrechte "Re-Politisierung" der Gesellschaft statt. Dieser
Widerstand muss nun entscheiden: er sollte weder die überholten bürgerlichen
Demokratien wollen, noch die technologisch-gesundheitliche Zwangsherrschaft,
die diese annehmen.
Literatur:
Agamben, Giorgio: An welchem Punkt stehen wir? Die Epidemie als Politik, Turia + Kant, Wien 2021