Global oder regional? Was man vom "Anarchismus" immer noch (nicht) lernen kann

Das Thema "Anarchismus" ist heute ausschließlich von "theoretischer" bzw. historischer Bedeutung. "Theoretisch" deshalb, weil das Ziel des historischen Anarchismus, die Herbeiführung einer gesellschaftlichen Ordnung ohne Staat, heute aus mehreren Gründen über keinerlei Verwirklichungspotential verfügt. Nicht nur, dass die historisch geprägten, heute herrschenden individuellen und kollektiven (Unter)Bewusstseinsformen die Idee einer "nicht-staatlichen Ordnung" nicht kennen bzw. diese "bestenfalls" als utopisch verwerfen; auch die realgeschichtliche Entwicklung der Herrschaftsformen scheint bewiesen zu haben, dass etwas derartiges, wie es oft heißt, aufgrund der "Natur" des Menschen unmöglich ist. Der Staat als eine über den Individuen sich aufwölbende Ordnungsmacht erscheint beinahe schon "intuitiv" als ebenso "natürliches" wie notwendiges Pendant zu dieser – in ihrer "ungezügelten" Form egoistisch und destruktiv wirkenden – "Natur" des Menschen. Folgerichtig wird der Staat als Vorbedingung jeder Möglichkeit einer gedeihlichen menschlichen Vergesellschaftung, seine Abwesenheit aber als Türöffner für Unordnung und Chaos betrachtet – oder synonym: für "Anarchie".
Obwohl der so verstandene Begriff "Anarchie" (Unordnung, Chaos) seit dem 19. Jahrhundert als ideologischer Kampfbegriff zur Untermauerung der Legitimität des Staates fungiert und mit den Zielsetzungen des historischen Anarchismus nichts zu tun hat, ist die Vorstellung, "Staatslosigkeit" führe (heute mehr denn je) zu Unordnung und Chaos, nicht falsch. Es scheint nur, als müsse dies nicht notwendigerweise an einer als transhistorisch begriffenen "Natur" des Menschen liegen, sondern als könne vielmehr auf die gegenwärtig vorherrschende "Natur" des Menschen (im Sinne einer historisch geprägten und spezifisch konditionierten Bewusstseinsform) sowie auf die mit dieser korrespondierenden objektiven Gesellschaftsverhältnisse verwiesen werden. Zweifellos würde es in den uns heute bekannten modernen Gesellschaften, v. a. den sozio-ökonomisch ungleichen, bei Abwesenheit staatlicher Ordnungsgewalt zu schrecklichen Verwerfungen kommen, und kaum jemand würde deshalb – zurecht – eine uneingeschränkt "anarchistische" Position vertreten. Gleichzeitig aber existieren Gesellschaften (v. a. vor-modern geprägte "indigene"), die ganz ohne Staatsgewalt auskommen und trotzdem (oder womöglich gerade deshalb?) in Frieden leben. Diese simple Tatsache, auch wenn sie als große Ausnahme erscheint, zeigt, dass auf eine allgemeine "Natur" des Menschen offensichtlich nicht vorschnell geschlossen werden darf. Wenn dem aber so ist, wenn also die als "böse" und destruktiv begriffene "Natur" des Menschen nicht immer schon vorausgesetzt werden kann, dann fiele damit auch die "Natürlichkeit" des daraus abgeleiteten Staates als notwendigem regulatorischem Korrektiv.
In diesem Punkt, der anthropologischen Ausgangsannahme, unterscheiden sich die anarchistischen Erklärungen für die Existenz des Staates im Kern von allen anderen überlieferten. Staatstheoretisch bzw. ‑philosophisch betrachtet gibt es seit der Antike die unterschiedlichsten Versuche, die Notwendigkeit der Existenz des Staates zu untermauern. Bei allen Differenzen ist diesen Theorien doch gemein, dass es sich jeweils um "naturrechtlich"-metaphysisch angelegte (deduktive) Staatsapologien handelt: Für Platon entsteht der Staat aus dem Bedürfnis des Zusammenschlusses, bei Aristoteles ist er ein "Gebilde der Natur", mittelalterliche Legitimationen rekurrieren auf transzendente, göttliche Begebenheiten, für Hobbes verhindert der Staat den "Krieg aller gegen alle", für Aufklärer wie Rousseau geht der Staat aus einem "contrat social" hervor usw. usf. – In diametraler Opposition dazu ist für die Theoretiker des Anarchismus, sehr grob und vereinfacht gesprochen, der Staat hingegen eine Einrichtung, die von einer Menschengruppe einer anderen Menschengruppe aufgezwungen wird, um die Herrschaft der "Sieger" über die "Besiegten" mit dem Ziel der ökonomischen Ausbeutung der Letzteren sicherzustellen. Wir haben es im Unterschied zu den idealistischen Rechtfertigungen hier also mit einer Art materialistischen, "empirischen", sozial-ökonomischen Analyse zu tun. In ihrem Sinne bedeutet "Anarchie" nicht, wie von den Staatsapologeten suggeriert, Chaos und Unordnung, sondern primär "Freiheit von Herrschaft und Ausbeutung" und das heißt – da aus ihrer Sicht der Staat als Instrument für den Fortbestand von Herrschaft und Ausbeutung fungiert – "Staatslosigkeit". Dieser Zustand wird gerade nicht als Unordnung, sondern als eigentliche, "gerechte" Ordnung mit den ihr eigenen Organisationsprinzipien verstanden, der auch keine "böse" "Natur" des Menschen in die Quere kommen kann. Und tatsächlich wissen wir, dass alle staatlich organisierten Gesellschaften seit der Antike mit großer sozialer und ökonomischer Ungleichheit sowie einer Einteilung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in Kategorien wie Kasten, Schichten, Klassen, Stände usw. einhergehen. Was also ist dran am Anarchismus? Hat er, wenn nicht realpolitisch, so doch in theoretisch-analytischer Hinsicht das Potential, gesellschaftliche Verhältnisse kritischer als gewöhnlich zu hinterfragen und zum Verständnis vorhandener Problemkonstellationen beizutragen, auch und gerade in Zeiten der Globalisierung und des "Globalismus"?
"Anarchie" bedeutet nicht Unordnung und Chaos, sondern "Ordnung ohne Staat". Der Anarchismus geht davon aus, dass eine solche aufgrund der friedlich-solidarischen Natur des Menschen möglich ist. Der Staat gilt als Instrument zur Aufrechterhaltung der Herrschaft ökonomischer Eliten.
Es gibt heute kaum eine politische Strömung, die weniger realen Einfluss auf die Ausgestaltung der globalen Gesellschaftsverhältnisse auszuüben vermag als der Anarchismus. Auch historisch betrachtet war er stets mehr eine Randerscheinung als eine treibende Kraft, auch wenn er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein in gewissem Ausmaß realpolitische Wirksamkeit entfaltet hat (v. a. in Gestalt des Anarchosyndikalismus in den Jahren des Spanischen Bürgerkriegs 1936 bis 1939). Interessant ist eine theoretische Beschäftigung mit dem Anarchismus v. a. deshalb, weil er innerhalb des Spektrums politisch-gesellschaftlicher Organisationsformen einen der beiden äußersten Endpunkte darstellt, und zwar den am weitesten "links" gelegenen. Grob skizziert kann ein solches Spektrum bzw. Klassifikationsschema in gradueller Abstufung zwischen Gegensatzpaaren wie "autoritär vs. freiheitlich (libertär)", "elitär vs. egalitär", "progressiv vs. konservativ" usw. verlaufen. Es kann auch zwischen Überbegriffen wie "Konservatismus", "Liberalismus", "Sozialismus" usw. angesiedelt sein bzw. zusätzlich mit konkreten Staatsformen ("Monarchie", "Republik") oder Regierungssystemen ("absolut", "parlamentarisch", "konstitutionell", "Stände", "Räte" usw.) verknüpft sein. Der Anarchismus nimmt dabei stets eine "Extrem"-Position ein und ist den Endpunkten "freiheitlich" (anti-autoritär, anti-staatlich) sowie "egalitär" (anti-hierarchisch) zuzuordnen. Je nach Definition würde er sich wohl auch als "progressiv" und u. U. als "republikanisch" (anti-monarchistisch) sowie "räte-basiert" ("anti-parlamentarisch") begreifen. Der zweite interessante Punkt, der für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Anarchismus spricht, hat mit dem Wandel des (Selbst)Verständnisses der politischen "Linken" im Verlauf der letzten 150 Jahre zu tun: Obwohl es dem historischen Anarchismus in Übereinstimmung im Grunde mit der gesamten "klassischen" Linken primär um die Überwindung der (absolutistischen) Monarchie(n) sowie v. a. um die Lösung der sozialen Frage im Gefolge der Industrialisierung ging, wurde doch alsbald die autoritäre ("staatsgläubige") Fraktion innerhalb der Linken zum Hauptfeind der Anarchisten. Im Kern dieser Auseinandersetzungen zwischen Anarchisten und marxistisch orientierten Sozialisten stand gerade die Frage nach dem Staat. Diese Auseinandersetzungen wurden zum Teil derart erbittert geführt, dass sie sogar den "gemeinsamen" Kampf gegen den Faschismus der 1930er-Jahre (Hitler, Mussolini, Franco) negativ beeinflussten. Durchgesetzt haben sich unter den Protagonisten der Linken letztendlich die autoritären, staats- und parteiorientierten Marxisten, deren Ziel darin bestand, den "bourgeoisen" Staatsapparat zu erobern und eine "Diktatur des Proletariats" zu errichten. Die "freiheitliche", anarchistische Fraktion trat demgegenüber wirkungsgeschichtlich kaum in Erscheinung und vermochte Gesellschaften nie dauerhaft in ihrem Sinne zu prägen.
Was aber haben diese frühen Grabenkämpfe innerhalb der "Arbeiterbefreiungsbewegung" mit der heutigen Situation im 21. Jahrhundert zu tun? Immerhin ist die diktatorische Form des autoritären Sozialismus in Gestalt des Sowjetsystems seit Jahrzehnten Geschichte, und der Privatkapitalismus hat sich in Verbindung mit einer zumeist parlamentarisch-demokratisch organisierten Staatlichkeit globalisiert. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die "westliche Linke" – die man, da sie im Unterschied zu den Anarchisten am (wenngleich demokratisch organisierten) Staat festhält, "demokratisch-autoritär" nennen könnte – innerhalb des globalisierten kapitalistischen Systems strategisch positioniert. Wofür oder wogegen kann aus linker Perspektive noch gekämpft werden, wenn nicht das "kapitalistische System" und damit nach alter (sogar marxistischer) Doktrin der Staat, der den herrschenden Eliten zur Absicherung ihrer Herrschaft und zur ökonomischen Ausbeutung der Unterprivilegierten dient, das Problem darstellen? – Ein kurzes Resümee: Schon vor der russischen Revolution 1917 hat sich die politische Linke vom marxistischen Theorem der "klassenlosen (und d. h. staatslosen) Gesellschaft" weitestgehend verabschiedet. Der Bolschewismus ist nach seiner Machtergreifung bei der vorletzten Stufe der vom Historischen Materialismus dekretierten dialektischen Geschichtsentwicklung, der (vermeintlichen) "Diktatur des Proletariats" (durch die Eroberung des Staatsapparates), stehengeblieben. Und auch die westliche Sozialdemokratie verfolgte von Beginn an keine antistaatlich-anarchistische, d. h. dezentral auf Räten basierende, sondern die zentralistisch-marxistische Strategie. In diesem Sinne hatte sie sich schon während der konstitutionellen Monarchien auf die Machtausweitung bzw. -übernahme innerhalb der bestehenden staatlichen Strukturen konzentriert. Nur am Rande war unter Parteitheoretikern, um der marxistischen Orthodoxie Rechnung zu tragen, bis in die 1950er-Jahre vereinzelt noch vom allmählich "absterbenden Staat" die Rede. Im Osten wurde ohnehin alsbald zwischen dem guten "sozialistischen" "Arbeiterstaat" und dem schlechten "bürgerlichen" Staat unterschieden. Ein tatsächlich dezentral organisiertes, assoziativ auf Verträgen basierendes Gemeinwesen, wie vom Anarchismus gefordert, stand auf beiden Seiten der Linken (in Ost und West) nie ernsthaft zur Debatte, ja wurde gnadenlos bekämpft. Diese Orientierung am Staat im Sinne einer Durchsetzung des "Sozialismus" von oben (durch Parteien und Kader) war, wenn man exemplarisch etwa die damals mächtigste sozialdemokratische Partei, die deutsche, in den Blick nimmt, neben der Vorkriegs-SPD bzw. späteren MSPD auch allen nachfolgenden linken Abspaltungen wie der USPD, den Spartakianern und der KPD gemein. Anarchistische Einflüsse wurden im Wesentlichen nur in der kurzen, äußerst erfolglosen Episode der Münchner Räterepublik manifest. Erste Risse bekamen die orthodoxe Ablehnung des kapitalistischen Systems und der strenge "Internationalismus" innerhalb der westlichen Sozialdemokratie schon vor bzw. während des Ersten Weltkriegs durch den parteiinternen "Revisionismus" und die "nationale" bzw. "imperialistische" Pro-Kriegs-Politik. In der Zwischenkriegszeit bekämpften sich, aus anarchistischer Sicht gesprochen, mit SPD, SAP und KPD gleichermaßen autoritäre Parteien, die sich "nur" in der angestrebten Staatsform (demokratisch-republikanischer "Sozialismus" vs. "Sozialismus" nach sowjetischem Vorbild) unterschieden. Tragischerweise hatte sich in weiterer Folge ohnehin der Faschismus durchgesetzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfestigte sich innerhalb der Linken der Antagonismus zwischen stalinistischer Diktatur im Osten (SED der DDR) und demokratischem "Sozialismus" im Westen (SPD der BRD). Spätestens mit dem Godesberger Programm 1959 verabschiedete sich die SPD vom Marxismus, arrangierte sich mit der (sozialen) Marktwirtschaft, d. h. dem privatkapitalistischen System, und wurde von einer Klassen- zur (bürgerlichen) Volkspartei. Ähnliche Entwicklungen gab es in fast allen sozialdemokratischen Parteien des Westens. Von Seiten des Ostens blieb man freilich mit dem Verdikt des "Rechts-Revisionismus" konfrontiert. Nach dem Niedergang des "Ostblocks" und dem endgültigen "Sieg des Kapitalismus" entwickelte sich die Sozialdemokratie im Rahmen einer zunehmend wirtschaftsliberalen Agenda ("new labour") ein weiteres Mal nach "rechts" und trat in weiterer Folge sogar als eine der Hauptpromotorinnen der "Globalisierung" auf.
Bereits zu Beginn der Arbeiterbewegung wurden die Anarchisten zum Hauptfeind der autoritären, staatsorientierten Fraktion innerhalb der "klassischen" (antikapitalistischen) Linken. Mit der heutigen, etablierten (wohlfahrtskapitalistischen) "Linken" weist der historische Anarchismus kaum noch Gemeinsamkeiten auf.
Würde man nun vor dem Hintergrund dieses Wandels im Selbstverständnis der Linken seit dem Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Gedankenexperiment wagen, sich in die Köpfe der Hauptakteure des historischen Anarchismus hineinzuversetzen, so könnte man ohne Zweifel zum Schluss gelangen, dass der historische Anarchismus nicht nur in größtmöglichem Kontrast zu den Inhalten und Strategien der heutigen, etablierten "Linken" stünde, sondern mehr noch: dass dessen Positionen, so eigenartig es zunächst klingen mag, mehr Überschneidungen mit der globalisierungskritischen (neuen) politischen Rechten aufwiesen. Überhaupt ist zu konstatieren, dass mit Blick auf die Entwicklungen insbesondere des letzten Jahrzehnts (v. a. mit Blick auf den "autoritären Liberalismus" der "Corona-Zeit") das angesprochene "Links-Rechts-Schema" für die Beschreibung normativer politischer Ordnungsvorstellungen dysfunktional geworden ist. Nicht nur setzt, um das begonnene Gedankenexperiment fortzuführen, die etablierte Linke auf den Staat – auch der über Interessensverbände und Parteien organisierte, "repräsentative", demokratisch-parlamentarische Staat ist anarchistischer Anschauung zufolge ein Herrschaftsinstrument der "Eliten" –, sie "bläht" ihn darüber hinaus etatistisch auf, verlagert also das Ungleichgewicht zwischen Staat und Gesellschaft (was nicht dasselbe ist) zunehmend in Richtung des Staates. Für Vertreter des historischen Anarchismus geht eine solche Verschiebung stets mit Bevormundung, "Fremdherrschaft" sowie einem Verlust an persönlicher und kollektiver Eigenmacht bzw. "Freiheit" einher. Nicht ein "freiheitlicher" Minimalstaat (wie etwa von wirtschaftsliberalen Zentristen/Rechten gefordert) scheint das Ziel der Linken, sondern einer, der alle vormals von der Gesellschaft übernommenen Aufgaben gleichsam "okkupiert" und damit nahezu alle Lebensbereiche kontrolliert. Und zum Dritten wird von der etablierten Linken die "Marktideologie" (Anarchisten präferieren stark regionalisierte, subsistenz- bzw. bedürfnisorientierte, vertraglich untereinander kooperierende Produktionsgemeinschaften) im Zuge der Globalisierung noch über die staatlichen Strukturen hinausgetragen und damit gleichsam verabsolutiert. Diese Tendenz, die Souveränität des Staates zusehends in super- bzw. supranationalen Institutionen "aufgehen" zu lassen, realisiert a) die These der orthodoxen Linken vom "Staats-Monopolkapitalismus" als verhängnisvoller Verquickung von (bürgerlich-imperialistischem) Staat und Kapital in einer radikaleren Form, ist b) für die (neue) Rechte mit der Angst vor Identitäts- und Kontrollverlust verbunden und würde c) vom historischen Anarchismus als "absoluter Zentralismus" und "Ökonomismus" gebrandmarkt.
Das führt uns zu einer pikanten Frage: Ist es tatsächlich möglich, dass die im skizzierten Sinne "verbürgerlichte" Sozialdemokratie gemeinsam mit den marktliberalen Parteien des politischen Zentrums und den "sozialdemokratisierten" Bürgerlichen heute einen nur auf den ersten Blick betrachtet inhomogenen "Block" bildet, der in seltsamer Äquidistanz sowohl dem historischen Anarchismus als auch der (neuen) politischen Rechten gegenübersteht? – Es darf vermutet werden, dass für die etablierte "Linke", auch wenn sie, anarchistisch gesprochen, am Staat festhält und so gesehen nicht weniger "autoritär" als die Rechte ist, der Staat seinem ursprünglichen konzeptiven Gehalt nach doch nach wie vor etwas "Rechtes", "Nationales", "Identitäres", "Begrenzendes" und damit "Ein- und Ausschließendes" darstellt. Da die Linke (in noch lebendiger Tradition) aber nicht in "nationalen" oder gar "völkischen" Kategorien denkt, wie die (extreme) Rechte, sondern im Sinne des linken "Internationalismus" in allgemeinen transnationalen Kategorien ("Klassen", "Schichten", "Werktätige", "Lohnarbeiter", "Unterprivilegierte", "Ausgebeutete", "Marginalisierte", oder schlechthin: "Menschen"), gilt es in gewisser Weise immer noch, zumindest den "identitätsstiftenden", Differenzen aufrecht erhaltenden Staat zu nivellieren bzw. ihn zur Durchsetzung eigener Inhalte ausschließlich als rein formales, abstraktes Machtinstrumentarium ohne transzendente, "rechts-konservative" "Aufladung" nutzbar zu machen. Denn trotz Globalisierung und Supranationalisierung wird der Staat – nicht der identitätsstiftende, "schlanke" "rechte" Nationalstaat, sondern der neutrale, formale, etatistische Machtstaat – zur Umsetzung der homogenisierenden "Gleichheits-" bzw. "Angleichungs-Agenda" (Menschenrechte, Minderheitenrechte, Frauenrechte, Arbeitnehmerrechte usw.) nach wie vor benötigt. Und zweifellos ist es der Linken im Laufe v. a. ihrer Nachkriegsgeschichte sehr erfolgreich gelungen, innerhalb der von ihr akzeptierten, staatlich organisierten kapitalistischen Wirtschafts- bzw. liberalen Gesellschaftsordnung für einen sozio-ökonomischen Ausgleich zu sorgen, wozu sie sich einem ganzen Arsenal etatistischer Instrumentarien zur sog. "Umverteilung" bedient (orthodoxe Marxisten, so sie noch existieren, würden der Sozialdemokratie hierfür freilich den nicht als Auszeichnung verstandenen Stempel des "System-Stabilisators" aufdrücken). Mit der Globalisierung als politisch-ökonomischem Vorgang der Deregulierung, dem sich die Linke zuletzt verpflichtet sah, sind nun aber einzelstaatliche Regulations-Spielräume per se eingeschränkt worden, während durch die von der Volatilität der weitgehend deregulierten Märkte immer wieder produzierten Wirtschaftskrisen auch die staatlichen Umverteilungs-Potentiale geschrumpft sind. Was also erhofft sich die Linke von der Globalisierung? Nun. Sie erblickt in der Globalisierung sowie vor allem im "Globalismus" als damit korrespondierendem Denken die Möglichkeit, politische Entscheidungsfindungsprozesse auf eine überstaatliche Ebene zu transferieren und damit einerseits inhaltlich (hinsichtlich der "universalistischen" Agenda), gleichzeitig aber auch "organisatorisch" zu reüssieren, nämlich durch die Überwindung und Nivellierung des "nationalen" Staates (Zentralismus vs. einzelstaatlicher Pluralismus). In diesem Sinne hat sich die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und damit der bipolaren Welt der "Systemkonkurrenz" übrig gebliebene "transatlantische" Linke als Hauptvertreterin einer entgrenzt-homogenen Weltordnung in Szene gesetzt, auch wenn diese die Gestalt einer ökonomistischen Globalisierung annimmt. Dieser "Kapitulation" vor der Hegemonie der Ökonomie entsprechend, hat sich das Augenmerk auch der europäischen Sozialdemokratie ab den 1990er-Jahren ein weiteres Mal weg von linken, "materialistischen", Kernthemen strukturell bedingter "Ungleichheit" und "Ungerechtigkeit" hin zu mehr "idealistischen", ethisch-kulturellen Fragestellungen verschoben. Deren Forcierung hat sich mittlerweile zu einem von vielen als solchen empfundenen, regelrechten "Kulturkampf" ausgewachsen, in dessen Zentrum die Bestrebung der Auflösung jeglicher Identitäten steht (individueller sowie kollektiver). Vor allem die neue, dadurch erstarkte politische Rechte lehnt die ökonomistische Globalisierung und den universalistischen "Globalismus" als den Versuch der Einebnung gewachsener kultureller Identitäten ab und setzt sich gegen deren supranationale Überformung ein. Darin bestehen die aktuell allerorten feststellbaren politischen bzw. "metapolitischen" Hauptkonfliktlinien.
Die "verbürgerlichte" Sozialdemokratie und die vom Wertkonservatismus abgekehrten "sozialdemokratisierten" Bürgerlichen unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Ihr gemeinsames Fundament bilden der globalisierte wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalismus (Kapitalismus und Globalismus) sowie der (mehr oder weniger schlanke) Staat. Das ehemalige "liberale Zentrum" ist überflüssig geworden.
Während sich also auf der einen Seite, wenn man so will, der "globalistische Block" befindet, getragen von Sozialdemokraten, Liberalen und (ehemals) Konservativen, steht auf der anderen Seite die (neue) Rechte, die sich als "reaktionäre" Verteidigerin des verloren zu gehen drohenden nationalstaatlichen Status quos inszeniert. Die alte, "klassische", autoritäre Linke ist obsolet geworden, und die "freie" Linke, der Anarchismus, ist nach wie vor bedeutungslos. – Dennoch wollen wir uns im Folgenden nicht etwa mit einem der herrschenden "Blöcke" beschäftigten, sondern, wie eingangs erwähnt, aus theoretischem und historischem Interesse, mit dem Anarchismus. Von "historischem" Anarchismus ist deshalb wiederholt die Rede, weil die Anarchisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nichts mit der heute hin und wieder auftretenden sog. "Antifa" zu tun haben. Während die historischen Anarchisten tatsächlich gegen den Faschismus gekämpft haben, ist das, wogegen die "Antifa" mit teils gewaltsamen Methoden glaubt, innerhalb demokratisch-parlamentarischer Staaten "kämpfen" zu müssen, nicht "Faschismus", sondern rechte Politik. Wenn sich die "Antifa" ihrerseits regelmäßig für die Globalisierung und den Globalismus stark macht, so verkennt sie, unabhängig von deren ökonomistischem Charakter, dass die historischen Anarchisten Konzepte der Dezentralisierung und Regionalisierung vertraten. Die zumeist jugendlichen Mitglieder der "Antifa" sind nicht nur wenig theorieaffin, sie haben mit ihrer barrikadenanarchistischen Revolutionsromantik den Boden der gesellschaftlichen Realität verlassen.
Die nachfolgenden Ausführungen zum Thema "Anarchismus" gliedern sich der Übersicht halber in vier Kapitel: Das erste Kapitel beschäftigt sich, um vorab mehr definitorische Klarheit zu erlangen, mit der Theorie des Anarchismus. Dabei geht es v. a. um die beiden grundlegenden Ausprägungsformen des Anarchismus, den "individualistischen" und den "kollektivistischen", sowie um die Abgrenzung von anderen politischen Strömungen vorwiegend des linken Spektrums. Das zweite Kapitel setzt die theoretischen Betrachtungen fort und widmet sich einem der Hauptproponenten des Anarchismus, wobei die Wahl nicht auf Michail Bakunin (1814–1876), sondern auf Peter Kropotkin (1842–1921) gefallen ist. Kropotkin gilt als Begründer des "kommunistischen" bzw. "kollektivistischen" Anarchismus und hat – in Analogie zum sog. "wissenschaftlichen Sozialismus" Marx' – versucht, selbigen wissenschaftlich zu begründen. Das dritte Kapitel ist ein praxisgeschichtliches, in dem auf die vereinzelten "Erfolge" der anarchistischen Bewegung eingegangen wird – die Pariser Kommune, die Mexikanische Revolution, die Münchner Räterepublik und die Spanische Revolution. Am Schluss, im vierten Kapitel, folgt ein Resümee, in dem noch einmal der Bogen zur aktuellen Situation gespannt sowie auf die titelgebende Frage der vorliegenden Abhandlung eingegangen bzw. zu erörtern versucht wird, was vom historischen Anarchismus immer noch (nicht) gelernt werden kann.
Anarchismus gegen Marxismus – Revolutionärer Bruderkrieg
Die politischen Strömungen "Anarchismus" und "Marxismus", die beide über keine realpolitische Bedeutung mehr verfügen, sollten nicht a priori verteufelt, sondern aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus zu verstehen versucht werden. – Mit der Französischen Revolution 1789, die die allgemeine Erklärung der Menschenrechte proklamierte, sowie der Industriellen Revolution, die zeitgleich von England aus den Kontinent eroberte, geriet die zuvor über Jahrhunderte bestehende "alte Ordnung" – im Sinne göttlich legitimierter hierarchischer Herrschaftsverhältnisse und feudaler Wirtschaftsstrukturen – endgültig ins Wanken. Doch trotz erster "egalitaristischer" Errungenschaften durch den Sturz der Monarchie entstand im Zuge der Industrialisierung doch alsbald eine neue bürgerliche Gesellschaftsschicht, deren Privilegien vergleichbar waren mit den durch die Revolution abgeschafften feudalen Vorrechten der Aristokratie. Die neue, automatisierte, industrielle (kapitalistische) Produktionsweise in den Fabriken, für die massenhaft entrechtete Arbeiter benötigt wurden, führte zur Landflucht von Bauern und Handwerkern sowie zu deren Verelendung als Lohnarbeiter in den schnell wachsenden Industriezentren. Dieser Massenarmut der "freien" Lohnarbeiter (frei von Produktionsmitteln) stand der neue Reichtum der Klasse der Produktionsmittelbesitzer gegenüber. Und so ist trotz "Revolution" an die Stelle des alten Gegensatzes zwischen Lehnsherren und Leibeigenen der neue Gegensatz zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnarbeitern getreten. Es waren Proudhon und Marx, die als erste erkannten, dass unter diesen Vorzeichen keine soziale Gerechtigkeit zu erzielen war. V. a. Marx war es, der vor dem Hintergrund der sich zutragenden sozialen Misere eine detaillierte Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und der ihr inhärenten Kapitalakkumulation vorlegte. Es ist vorerst wichtig zu verstehen, dass es diese berechtigte "soziale Frage" des 19. Jahrhunderts gewesen war, die den Ausgangspunkt sämtlicher Bestrebungen bildete, die man seither der "politischen Linken" zuordnet. Während der Konservatismus als "politische Rechte" teils in wirtschaftlicher, v. a. aber in gesellschaftlicher Hinsicht an der "alten Ordnung" festhielt und der Liberalismus als "politische Mitte" in gesellschaftlicher Hinsicht das "Individuum" und in wirtschaftlicher Hinsicht den Kapitalismus einforderte, entstanden die "politische Linke" und der Sozialismus vorerst aus der Bestrebung heraus, dem gesellschaftlichen Liberalismus eine aus ihrer Sicht gerechtere Wirtschaftsordnung beizustellen (im späteren Geschichtsverlauf wurden v. a. im Osten der gesellschaftliche Liberalismus und das "Individuum" durch den autoritären Kollektivismus und den "Massenmenschen" ersetzt). Im Grunde war die "politische Linke" bis zur Reformorientierung und "Verbürgerlichung" der westlichen Sozialdemokratie von dieser marxistischen Kapitalismusanalyse geprägt. Auch noch in den 1960er- und 1970er-Jahren bekannten sich viele "außerparlamentarische" Linke (im Gefolge v. a. der Studentenbewegung) zum Marxismus (oder, wie etwa die linksterroristische RAF, zum Marxismus-Leninismus) und damit zu einer antikapitalistischen Gesellschaftsordnung. Im Osten blieb, trotz aller "Pervertierung" der "reinen Lehre", der Marxismus bis zum Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" selbstredend Staatsdoktrin. Verkürzt gesprochen und ohne auf Details eingehen zu können, ging es dem Marxismus als sogenanntem "wissenschaftlichen Sozialismus" darum, die neu entstandene Masse "freier" Lohnarbeiter zu einer sich selbst bewussten "Klasse" heranzubilden, sie zentral in Parteien und Gewerkschaften zu organisieren, damit innerhalb der bestehenden bürgerlichen Staatsapparate schrittweise die Macht zu erobern und den Staat anschließend zu reorganisieren und für die Interessen des "Proletariats" dienstbar zu machen. Als "wissenschaftlich" betrachtete sich der marxistische Sozialismus insbesondere deshalb, weil ihm mit dem "Historischen Materialismus" ein elaboriertes, ökonomisch-anthropologisch fundiertes, gleichsam mechanisches "Bewegungsgesetz der Geschichte" von geradezu metaphysischer Geltungsbreite unterlegt worden war, demzufolge der Geschichtsverlauf einem permanenten dialektischen Prozess von "Klassenkämpfen" gleicht. Dieser Prozess wurde in Hegel'scher Manier – nur ökonomisch-"materialistisch" statt "idealistisch" konzipiert – als Höherentwicklung im Sinne von "Fortschritt" begriffen. Während der Hegel'sche "Weltgeist" in der bürgerlichen Gesellschaft seinen höchsten Ausdruck angenommen haben sollte, sah Marx angesichts der ökonomischen Misere der bürgerlichen Gesellschaft das Endziel erst in ihrer Überwindung durch den Sozialismus gegeben, der über den Zwischenschritt der "Diktatur des Proletariats" in der "klassenlosen Gesellschaft" münden sollte. Diese geschichtsphilosophischen Thesen übten in Kombination mit der "profanen" Analyse der Funktionsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise ("Mehrwerttheorie") eine große Faszination aus. Als "progressiv-antikapitalistisch" kann der Marxismus deshalb bezeichnet werden, weil der Sozialismus bzw. Kommunismus im Sinne der dialektischen Geschichtsauffassung die bürgerliche Gesellschaft und den Kapitalismus voraussetzt (kein Kommunismus ohne Kapitalismus). Demgegenüber lehnen Teile des Konservatismus den Kapitalismus, etwa aus ökologischen oder kulturellen Aspekten heraus, in "reaktionärer" (anti-modernistischer) Perspektive ab – so wie im Übrigen auch Teile des Anarchismus.
Die Französische Revolution war eine vom Bürgertum getragene politische Revolution, die durch die ausgebliebene soziale Revolution "unvollkommen" blieb. Auf dem Boden der neu entstandenen Herrschaft der "Bourgeoisie" und der durch die industriell-kapitalistische Produktionsweise verursachten sozialen Misere entstand die "politische Linke". Der Marxismus schien mit dem Historischen Materialismus ein umfassendes Erklärungsmodell anzubieten.
Der Anarchismus entstand im Wesentlichen zeitgleich mit dem Marxismus. Und auch er hatte die "soziale Frage" sowie die Herrschaftsfrage zum Ausgangspunkt. In der Bewertung der vorherrschenden Gesellschaftsverhältnisse sowie in deren materialistisch-ökonomischer Analyse gingen die Anarchisten mit dem Marxismus weitgehend konform. Der unüberbrückbare Unterschied bestand jedoch in der Antwort auf die Frage, wie der Weg zu der in Aussicht gestellten gerechteren Gesellschaft auszusehen habe. So bezogen die Anarchisten innerhalb der Arbeiterbewegung politische Positionen, die sich, in diametraler Opposition zum Marxismus, ausdrücklich gegen zentralistische Organisationen (Parteien, Gewerkschaften) und "elitäre" Kader aussprachen. Während die Marxisten im Sinne der erwähnten Strategie für die Gründung starker, straff organisierter Parteien plädierten, sahen die Anarchisten unter keinen Umständen die Notwendigkeit gegeben, sich und die Massen durch eine theoretisch geschulte Avantgarde bevormunden zu lassen. Eine starke Solidarisierung der Massen, so ihre Vorstellung, komme nicht durch streng hierarchisches Anordnen von oben zustande, sondern durch die Selbstinitiative im Sinne eines freiwilligen Zusammenschlusses in Föderationen – dezentral und von unten. Statt sich an staatlichen Willensbildungsprozessen zu beteiligen (sei es in konstitutionellen Monarchien oder demokratischen Republiken) und dadurch schrittweise die Macht zu erlangen, wurde die Forderung einer unmittelbaren und endgültigen Beseitigung des kapitalistischen Klassensystems erhoben. Konsistent war diese Forderung deshalb, weil man das "Bewegungsgesetz" der Revolution in der Spontaneität der Massen gefunden zu haben glaubte, nicht aber in ihrer paternalistischen Erziehung zum Zwecke der Vorbereitung der Revolution. Der Anti-Autoritarismus des "freiheitlichen Sozialismus" bestand in diesem Sinne vor allem darin, gegen die "Zwei-Phasen-Theorie" der Revolution zu opponieren, wie sie von Marx und Engels vertreten worden war und derzufolge die Partei des Proletariats zuerst den bürgerlichen Staat zu erobern hatte, ehe er nach erfolgter Umgestaltung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse von selbst absterben sollte. Zum anderen konnte die unmittelbare Zerschlagung des Kapitalismus in Erwägung gezogen werden, weil der Anarchismus zwar antikapitalistisch, nicht aber in jenem Sinne "progressiv-antikapitalistisch" (modernistisch) ausgerichtet war, wie der vom Historischen Materialismus geprägte Marxismus. Diesem zufolge bildet stets eine hohe Stufe der Produktivkraftentwicklung, wie sie im Industriekapitalismus gegeben schien, die Grundvoraussetzung und Vorbedingung für den Kommunismus. Die Anarchisten strebten demgegenüber eine dezentral organisierte, landwirtschaftlich, handwerklich und kleinindustriell strukturierte Güterproduktion an und sahen somit keine Veranlassung, sich den Zentralisierungsbestrebungen anzubiedern (darin bestehen im Übrigen Parallelen zwischen Anarchismus und antimodernistischem Konservatismus). Mit Blick auf die tatsächlichen historischen Entwicklungen, insbesondere im Zusammenhang mit der Oktoberrevolution 1917, haben die Anarchisten in einem Punkt tatsächlich recht behalten. Nämlich in ihrer Annahme, eine zentralistisch (durch Parteien) organisierte Revolution trage die Gefahr in sich, dass eine selbsternannte, sich geistig überlegen fühlende "Führerclique" im Moment der Übernahme des alten Staates eine neue Regierung und einen neuen Staat schaffe. Die bolschewistische Machtergreifung und spätere Willkürherrschaft ("Kriegskommunismus") lassen diese anarchistische Einschätzung ex post als dystopisches Omen erscheinen. – Der über diese "Taktikfragen" geführte "revolutionäre Bruderkrieg" nahm bereits zu Beginn der Arbeiterbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts Gestalt an, als es zu Auseinandersetzungen zwischen Michail Bakunin auf der antiautoritären (anarchistischen) und Karl Marx auf der autoritären ("wissenschaftlich-sozialistischen") Seite gekommen war. Dieser ideologische Konflikt führte zur Spaltung der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) und zum Ausschluss der anarchistischen Fraktion aus der "Ersten Internationale" im Jahr 1872. In weiterer Folge spielten anarchistische Strategien in den unterschiedlichen Organisationsformaten des "internationalen Sozialismus" keine Rolle mehr.
Im Unterschied zum Marxismus lehnte der Anarchismus die Übernahme des bürgerlichen Staatsapparates sowie die Bildung von Parteien und Gewerkschaften ab. Nicht "Zentralismus und Diktat von oben", sondern "Föderalismus und Selbstinitiative von unten" lautete die Devise. Seither kann innerhalb der Linken zwischen "autoritärem" und "freiheitlichem" Sozialismus unterschieden werden.
Aus den bisherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass es sich sowohl beim Anarchismus als auch beim Marxismus um "kollektivistisch" angelegte politische Theorien handelt, d. h. um Theorien, die davon ausgehen, dass das "Gute", "Gerechte" (das "Gemeinwohl") und insbesondere die "Freiheit des Einzelnen" sich nur innerhalb einer Gemeinschaft von Menschen (nicht aber durch den Einzelmenschen selbst) realisieren lassen. Mit dieser Ansicht stehen beide Strömungen – allerdings auf eine andere Art als der Konservatismus – der "radikalen" Form des Liberalismus gegenüber, der die Existenz von "Gesellschaften" oder "Gemeinschaften" negiert bzw. – in nominalistischem Sinne – nur als Ansammlung atomistisch gedachter "Individuen" betrachtet, die in rationalistischer Weise bestrebt sind, ihren jeweiligen (ökonomischen) Eigennutzen zu maximieren. Hierin korrespondiert der gesellschaftliche Liberalismus ("Individualismus") als Produkt der "Aufklärung" mit dem wirtschaftlichen Liberalismus, der im Kapitalismus das natürliche Habitat des homo oeconomicus sieht. Demgegenüber betont der (kollektivistische) Anarchismus auf der Basis einer positiven Anthropologie die Möglichkeit, v. a. durch gemeinwohlorientiertes Wirtschaften eine starke mimetische Bindung der Gesellschaftsmitglieder untereinander herstellen zu können, und der Marxismus geht davon aus, dass sich erst durch das Schaffen eines gemeinsamen Bewusstseins der "Arbeiterklasse" jenes "Kollektivsubjekt" konstituiert, das in der Lage ist, in historischem Ausmaß gesellschaftsverändernde Wirksamkeit zu entfalten. – Vom "kollektivistischen" Anarchismus wird in der Regel ein sog. "individualistischer" Anarchismus unterschieden, der im Wesentlichen durch Max Stirner (1806–1856) verkörpert wird. Stirner setzte sich in seinem Werk Der Einzige und sein Eigentum mit den herrschenden Verhältnissen auf eine eher theoretisch-abstrakte Weise auseinander. Im Unterschied zu den kollektivistischen Formen des Anarchismus sah er die Freiheit des Einzelnen nicht an eine Form der Gegenseitigkeit geknüpft, sondern im uneingeschränkten Recht des Einzelnen verwirklicht, keiner außer- oder überindividuellen Kontrollinstanz zu unterliegen. Vielfach ist m. E. zurecht die Meinung vertreten worden, Stirner könne nur schwer der Kategorie des "Anarchismus" zugeordnet werden. Und zwar deshalb, weil seine "egoistischen" Motive zu sehr den anarchistischen Kollektivgedanken konterkarieren. Zwar ist auch der Anarchismus in seiner Betonung des neuzeitlichen "Individuums", das dem Herrschaftsapparat Staat gegenübergestellt wird, ein "Kind" des politischen bzw. gesellschaftlichen Liberalismus, dennoch aber würde Stirners "ultraliberaler" Subjektivismus jede vom Anarchismus geforderte gemeinsame revolutionäre Aktion von vornherein unterminieren. Dem entspricht auch die Vorstellung Stirners, wonach die Realisierung seines "libertären Individualismus" nicht durch Gewalt erfolgen könne, sondern nur durch Bewusstseinsbildung und Aufklärung, d. h. also nicht auf revolutionärem, sondern auf evolutionärem Weg. Im Rahmen der je persönlichen "Individuation" (Selbstwerdung) gelte es, passiven Widerstand gegen den Staat sowie alle religiösen und gesellschaftlichen Institutionen zu leisten. Im Grunde scheint es bei Stirner in einer Art "anti-konservativistischem Reflex" darum zu gehen, sich mit geradezu "jakobinischer Härte" allem, was dem "Individuum" determinierend und prägend vorausgeht, zu widersetzen, mithin sich aus allen sozialen Zusammenhängen zu lösen und einen einsamen, innerlichen Kampf gegen die normierende Kraft des "Über-Ichs" zu führen. Demgegenüber ginge es heute darum, die eingangs erwähnten, gegenwärtig vorherrschenden individuellen und kollektiven (Unter)Bewusstseinsinhalte, die stark vom anti-gemeinschaftlichen Geist des Liberalismus/Kapitalismus geprägt sind, durch Symbolwelten zu ersetzen, die einen Beitrag dazu leisten können, der Vorstellung von einer immer schon destruktiv und egoistisch wirkenden "Natur" des Menschen etwas entgegenzuhalten. Wenn wir uns im Folgenden mit Peter Kropotkin, einem der Hauptvertreter des kollektivistischen Anarchismus, beschäftigen, so geht es gerade darum: den (Sozial)Darwinismus mit dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe zu konfrontieren.
Kropotkins kollektivistischer Anarchismus und das Prinzip der gegenseitigen Hilfe
Kropotkin gehörte dem russischen Hochadel an. Er war Mathematiker und Geograph. Während einer Forschungsreise durch Europa kam er mit sozialistischen und anarchistischen Kreisen in Kontakt, was 1874 zu seiner Festnahme und Haft im Romanow-Imperium führte. 1876 gelang ihm die Flucht nach Europa. Nach der Oktoberrevolution 1917 kehrte er nach Russland zurück und kritisierte Lenin und die Politik der Bolschewiki scharf. Zwar befürwortete Kropotkin, wie die meisten Anarchisten, die Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum, allerdings nicht im bolschewistischen bzw. "staatskommunistischen" Sinne auf den Staat. Als Vertreter eines "freiheitlichen", anti-autoritären Sozialismus, lehnte er, im Unterschied zu den Marxisten, die Übertragung sozialer Funktionen auf den Staat kategorisch ab, auch und gerade in der Übergangsphase der Revolution. Eine Restrukturierung der Gesellschaft könne nur von unten und dezentral in Gang gebracht werden. Gemeineigentum an Produktionsmitteln bedeutete für Kropotkin in diesem Sinne nicht deren Verstaatlichung, sondern deren Übereignung an kleine, auf vertraglicher Vereinbarung beruhende Assoziationen bzw. Kommunen/Gemeinden. Kropotkins kollektivistischer Anarchismus ließe sich deshalb auch als "föderalistischer Kommunalismus" (M. Buber) bezeichnen. Im Unterschied zu vielen anderen Anarchisten, die sich in ihren "Theorien" zumeist "nur" auf philosophisch-moralische Ideale stützten, war Kropotkin aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung (er verfasste Werke aus den Bereichen Geologie, Geographie, Geschichte, Ökonomie, Philosophie und Literaturwissenschaft in verschiedenen Sprachen) bestrebt, den Anarchismus wissenschaftlich zu begründen und dem "wissenschaftlichen Sozialismus" (Marxismus) damit eine Art "wissenschaftlichen Anarchismus" gegenüberzustellen. Im Zentrum seiner Bemühungen stand die Frage, welche sozietären Formen für eine gegebene Gesellschaft bzw. die Menschheit im Allgemeinen die größte Summe an Glück gewährleisten können. Beeinflusst von den aufstrebenden Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, war es Kropotkins Ziel, den Anarchismus auf eine v. a. naturwissenschaftliche Basis zu stellen.

Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang seine Beschäftigung mit dem "Darwinismus". Charles Darwin hatte im Zuge seiner Forschungsreisen in den 1830er-Jahren Erkenntnisse gewonnen, die ihn an der bis dahin unangefochtenen Vorstellung von der Konstanz der Arten haben zweifeln lassen. Er entwickelte die als "Evolutionstheorie" bekannt gewordene Hypothese einer gemeinsamen Abstammung und allmählichen Veränderung der Arten nach dem Prinzip der "Selektion". Diesem zufolge tritt einerseits der ständige Kampf aller Individuen innerhalb einer Art, andererseits der Kampf zwischen den Arten um die bestmögliche ökologische Anpassung als "Motor" der Artentransformation in Erscheinung. In den Jahrzehnten nach dem Erscheinen seines Hauptwerks Die Entstehung der Arten stand der Begriff "Darwinismus" für eine Vielzahl von Philosophien und Theorien sowohl in der Biologie als auch in den Gesellschaftswissenschaften. Als Sinnbild für den "Darwinismus" wurde in der späteren Rezeption fälschlicherweise Herbert Spencers verkürzte Beschreibung der Theorien Darwins als "survival of the fittest" verwendet. Kropotkins 1902 erschienenes naturwissenschaftliches Hauptwerk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt kann als Auseinandersetzung mit dem Darwinismus und seiner ambivalenten Rezeptionsgeschichte betrachtet werden. Insbesondere opponierte er gegen die einseitige Auslegung des Darwinismus als "Kampf ums Daseins" bzw. "Überleben des Stärkeren", wie sie u. a. in Thomas Huxleys sozialdarwinistisches Werk The Struggle for Existance Eingang gefunden hatte. Kropotkin versuchte nachzuweisen, dass Darwin bereits in Die Entstehung der Arten den "Kampf ums Dasein" differenzierter verstanden hatte und im weiteren Verlauf seines Lebens zunehmend von diesem Diktum abgerückt sei. Insbesondere habe Darwin, so Kropotkin, bereits in seinem Hauptwerk implizit die Bedeutung des sozialen Verhaltens in der Evolution erkannt. Der Kampf ums Dasein dürfe nämlich weniger als erbitterter Kampf um individuelle Vorteile innerhalb von Stämmen und Gruppen verstanden werden, sondern vielmehr als vereinter Kampf der Gruppe gegen äußere Feinde und widrige Umwelteinflüsse. Kropotkin akzeptierte in diesem Sinne zwar die Evolutionstheorie als wissenschaftliche Grundlage für seine Analyse des tierischen (und menschlichen) Zusammenlebens, modifizierte sie aber um einen zweiten wichtigen Faktor – die gegenseitige Hilfe. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Tierwelt berichtete Kropotkin von gemeinsamen Jagdstrategien, kooperativem Verhalten bei der Aufzucht von Jungtieren, Schutzfunktionen von Rudeln oder der Sorge um verletzte oder kranke Artgenossen. Gegenseitige Hilfe, so schloss er, ermöglichte es manchen Arten, deren Einzelindividuen im Kampf ums Dasein unterliegen würden, sich überhaupt erst gegen andere zu behaupten. Dieses soziale Verhalten, das er als Ausdruck eines von Natur aus angelegten "Sozialtriebs" interpretierte, stelle die wichtigste "Waffe" überhaupt im Überlebenskampf dar.
Kropotkin übernahm Darwins Evolutionstheorie als Grundlage für seine Kulturtheorie, ergänzte sie aber um das Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Die Instrumentalisierung der verkürzten Form des Darwinismus als "Überleben des Stärkeren", wie durch rassistische Ideologien geschehen, lehnte er entschieden ab.
In seiner allgemeinen Entwicklungstheorie setzte Kropotkin die Kette der Beweisführung für den von ihm postulierten "Sozialtrieb" bzw. das Entwicklungsgesetz der gegenseitigen Hilfe nahtlos von der Tier- auf die Menschenwelt fort. Die fehlende explizite Begründung dieser bruchlosen Kontinuität machte seine These von mehreren Seiten her angreifbar, weil er außer Acht ließ, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier die Möglichkeit besitzt, sich in gewissem Ausmaß von seinen Instinkten und seiner naturgesetzlichen Determiniertheit zu befreien. Es darf vermutet werden, dass diese theoriebildnerische "Lücke" bei Kropotkin auf einer bewussten oder unbewusst gebliebenen naturalistisch-materialistischen Abwendung von der strikten Trennung von Mensch und Tier (Natur), Geist und Materie bzw. Subjekt und Objekt beruhte, wie sie ihrerseits sowohl für religiöse als auch für neuzeitlich-philosophische Konzeptionen (Cartesianismus) der damaligen Zeit üblich gewesen war. Hätte er trotz allen Szientismus' dem Umstand Rechnung tragen wollen, dass es im Laufe der Evolutionsgeschichte mit dem Auftreten des Menschen zur Ausprägung dessen gekommen ist, was die Subjektphilosophie die "Freiheit des Willens" nennt, ohne den Menschen dabei aus dem allgemeinen Naturzusammenhang herauszulösen, so hätte ihm der Rekurs auf den "objektiven Idealismus" Schellings zur Verfügung gestanden. Dieser erlaubt es, die Evolution als Ausdruck des Wirkens einer subjekt-unabhängigen, hervorbringenden Natur (natura naturans) bis herauf zum menschlichen Selbstbewusstsein zu begreifen. Während Theologen und "reine" (subjektive) Idealisten davor zurückschrecken, den Darwinismus auf die Welt des Menschen zu übertragen, und rassistische Ideologien den Darwinismus in einer verkürzten Form ("survival of the fittest") auf die Welt des Menschen übertragen, überträgt Kropotkin den Darwinismus in einer modifizierten, um den "Sozialtrieb" ergänzten Form auf die Welt des Menschen. (Unabhängig davon scheinen auch neueste Ergebnisse aus der Genforschung Kropotkins "Sozialtrieb"-These zu bestätigen. So glaubt jedenfalls J. Bauer in Das kooperative Gen. Abschied vom Darwinismus nachgewiesen zu haben, dass Kooperation, Kommunikation und Kreativität die Grundprinzipien der Evolution darstellen.)
Kropotkin kommt – ohne komplizierte philosophische Erörterungen zum Verhältnis zwischen Materie und Geist anzustellen – auf die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen zu sprechen. Den Verstand (oder aufklärerisch aufgeladen: die "Vernunft") sah er nicht als jenseits der Natur angesiedelten Prius, sondern als naturhaftes Phänomen, das sich im Laufe der Geschichte durch soziales Verhalten herausentwickelt und zunehmend verfeinert hat. Kropotkin interpretierte, entgegen der heute vorherrschenden liberalen Anthropologie, "Geselligkeit" als einen Hauptfaktor sowohl des natur- als auch des kulturgeschichtlichen Fortschritts. Durch soziales Verhalten, so seine These, konnte das Wohlergehen der Art mit möglichst geringem Kraftaufwand gesichert und dadurch die Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten erst ermöglicht und gefördert werden. Einer Art Koevolution von sozialem Verhalten und Verstand sei mithin die Ausdifferenzierung von Institutionen zu verdanken, während sich aus dem verkürzt-darwinistisch interpretierten (individuellen) "Kampf aller gegen alle" keine fortschrittliche Weiterentwicklung aus dem kriegerischen Naturzustand heraus ergeben hätte können. Nur in der Vereinigung und der gegenseitigen Hilfe sah Kropotkin das geeignete Mittel zur Gewährleistung der größtmöglichen Absicherung der Existenz aller Mitglieder einer Gemeinschaft. Dieses dem Menschen inhärente Ordnungspotential sei durch die gesamte Geschichte hindurch wirksam gewesen. Von Anbeginn der Tier- und Menschengesellschaft sei gegenseitige Hilfe praktiziert und zu einer hilfreichen Gewohnheit, einer gleichsam natürlichen Verhaltensdisposition geworden, der im Evolutionsprozess eine weit wichtigere Rolle als dem Konkurrenzprinzip zugesprochen werden müsse. – Mit dieser Annahme einer friedlich-solidarischen Natur des Menschen steht Kropotkin in diametraler Opposition zur Anthropologie des "Individualismus", die davon ausgeht, dass der Mensch kein von Natur aus soziales Wesen ist, sondern einer Art unabhängigen Monade gleicht, die sich erst in einem zweiten Schritt mit anderen "Subjekten" zu einer Gesellschaft zusammenschließt (daher rührt die Idee des "Gesellschaftsvertrags"). Im klassischen Liberalismus, stärker noch im Neoliberalismus (v. a. F. A. Hayek), trachtet das autonome Individuum stets danach, in der vorgefundenen Umwelt auf rationale Weise seinen jeweils besten Vorteil zu realisieren. Für dieses Menschenbild, den homo oeconomicus, ist in wirtschaftlicher Hinsicht (der einzig gültigen) der unreglementierte freie Markt (der Kapitalismus) die ideale "Spielwiese". Nicht das Gemeinwohl, das aus kollektiven Verbindlichkeiten hervorgeht, denen sich eine Gemeinschaft von Menschen verpflichtet sieht, steht im Zentrum, sondern der rein monetär bemessene, allem Transzendenten abholde private Profit. Falls überhaupt etwas Überindividuelles im Sinne eines "Guts des Ganzen" Platz hat, so nur innerhalb der Prämisse, dass sich ein solches dann gleichsam von selbst einstelle (durch das Wirken einer "unsichtbaren Hand"), wenn dem Profitstreben jedes Einzelnen keine kollektivistischen Restriktionen auferlegt werden. Politik kann es in dieser Konzeption nicht geben, bzw. nur als Instanz zur Sicherstellung rein formaler Rechte des Individuums, nicht aber als gemeinschaftliches Projekt, das sich inhaltlich zu einem wie auch immer gearteten "Guten", "Sittlichen", "Erstrebenswerten" bekennt und seine Normen mit entsprechenden Inhalten füllt. – Der kollektivistische Anarchismus ist nun insofern ambivalent, als er einerseits in der Tradition der Französischen Revolution, der Aufklärung und damit des "Individualismus" steht, gleichzeitig aber die Anthropologie des Liberalismus, jedenfalls ist es bei Kropotkin so, mit der These des Menschen als von Natur aus sozialem Wesen konterkariert. Kropotkins Naturalismus verhindert es, den kollektivistischen Anarchismus leichtfertig als eine Theorie zu klassifizieren, die lediglich die ex post – auf individualistischem Fundament – aufgebaute "Gesellschaft" (verstanden als Summe ihrer Einzelteile) goutiert, alle organisch gewachsenen Gemeinschaften aber, die aufgrund ihrer "Normintegriertheit" mehr darstellen als die Summe ihrer Einzelteile, verwirft. Im Gegenteil: Das anarchistische Pochen auf Vertragsvereinbarungen hat keine philosophisch-anthropologischen Hintergründe, sondern praktisch-ökonomische; dem modernen Konstruktivismus (dem liberalen "Gesellschaftsvertrag") wird das gewachsene "Volkstümliche" entgegengehalten. Vor diesem Hintergrund wäre auch die Behauptung nicht verwegen, wonach Kropotkin heute, jedenfalls in Teilen, wahrscheinlich als "reaktionärer", "romantizistischer", "fortschrittsfeindlicher", "anti-liberaler" "Rechter" gelten würde – mit der einzigen Ausnahmen, dass er, im Unterschied zur politischen Rechten, den Staat ablehnt (nicht nur den rein formalen "Rechtsstaat", sondern auch den "rechten", identitätsstiftenden, dem "Volk" oder der "Nation" eine normative Gewandung gebenden Staat).
Für Kropotkin haben sich der menschliche Verstand sowie gemeinschaftliche Institutionen im Laufe der Geschichte durch soziales Verhalten ganz natürlich herausgebildet. Mit diesem Naturalismus verwirft er implizit die liberale Anthropologie sowie den neuzeitlichen Subjektivismus, die vom Primat des "Individuums" ausgehen, das sich erst nachträglich, durch freien Entschluss, mit anderen Individuen zu einer "Gesellschaft" (vs. Gemeinschaft) zusammenschließt.
Doch obwohl er ein von Natur aus "soziales Wesen" darstellt, geht der Mensch bei Kropotkin auch abseits des Herrschaftsapparates "Staat", d. h. in der freien, vertragsbasierten Föderation, nie zur Gänze im Kollektiv auf (bzw. unter), wie etwa in faschistischen (bzw. staatskommunistischen) Gesellschaftsidealen. Seine Überzeugung war es, dass im Menschen zwei fundamentale Grundbestrebungen vorherrschen – jene nach Individualität und jene nach Geselligkeit. Wobei es auf dieser Grundlage die soziologische Frage nach der Relation zwischen Individuum und Gesellschaft zu klären gelte. Diejenigen Institutionen in der Geschichte der Menschheit, so Kropotkin, die in der Lage gewesen seien, diese beiden Motivationen bestmöglich miteinander zu kombinieren, hätten sich im Nachhinein stets als die besseren erwiesen. Mit Blick auf die Menschheitsgeschichte glaubte Kropotkin zahlreiche positive Beispiele für die Wirkmächtigkeit des menschlichen Gemeinschaftssinns entdeckt zu haben. Gleichwohl hätten sich in der Geschichte, so seine "geschichtsphilosophische" These, seit jeher zwei entgegengesetzte Traditionen bzw. Tendenzen gegenübergestanden, nämlich die herrschaftsorientierte, zentralistische "römische" und die antiautoritäre, föderalistische "volkstümliche". Letztere sah er verwirklicht in den menschlichen Urhorden, den freien Konföderationen der Stämme, der Gemeinden, der Stammesverbände, der Dörfer und der Produzentengilden von der Antike, über das Mittelalter bis hin an die Schwelle zum Industriezeitalter – getragen jeweils von den Prinzipien der Gegenseitigkeit, der Solidarität und des freiwilligen Zusammenwirkens. Stets sei die menschliche Triebkraft der gegenseitigen Hilfe für die Entwicklung und den Fortschritt ausschlaggebend gewesen. Den größten Widersacher der volkstümlichen Tradition sah Kropotkin in der Industriellen Revolution, der Arbeitsteilung und dem zuvor bereits vom Bürgertum schrittweise in Beschlag genommenen Staat. In den staatlich etablierten Zweckverbindungen seiner Zeit sah Kropotkin keine Freiwilligkeit mehr gegeben, da die Usurpation aller sozialen Funktionen durch den Staat stattgefunden habe (vgl. den heutigen "abstrakten" Wohlfahrtsstaat der etatistischen "Linken"). Der Staat habe sich an die Stelle der freien Konföderationen gesetzt, die Instinkte der gegenseitigen Unterstützung zerstört (Individualismus als Partikularismus) und den Minderheiten eine furchtbare Unterstützung geliefert, die Massen zu verknechten. Angesprochen ist hier die sukzessive Machtübernahme der (kaufmännischen) Bourgeoisie seit dem 15. Jahrhundert im Zuge v. a. der Einführung der Marktwirtschaft sowie nationaler Märkte (Merkantilismus) in Kooperation mit dem auf Steuereinnahmen schielenden Staat, wodurch die kleingliedrige Wirtschaftsstruktur zerstört worden sei. Einen vorläufigen Höhepunkt fand diese über Jahrhunderte andauernde, schleichende Machtübernahme des "Mittelstands" zu Kropotkins Lebzeiten. Insbesondere nach der Revolution 1848 und dem Zweiten Kaiserreich (1852 bis 1870) begann eine nie dagewesene Expansionsphase für den liberalen Kapitalismus bei gleichzeitiger Bildung eines stetig wachsenden Proletariats. Mit der Gründung der Dritten Republik wurden schließlich die Bemühungen der Geldbourgeoisie gekrönt. Die "Belle Époque" kann als Ära des siegreichen Bürgertums betrachtet werden.
Bis ins 18. Jahrhundert war Kropotkin zufolge die "volkstümlich"-gemeinschaftliche Tradition in der Lage, nützliche Organisationsformen hervorzubringen. Spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts seien aus den vormals freiwilligen menschlichen Zusammenschlüssen im Zuge v. a. der Entwicklung des bürgerlichen Staats und der arbeitsteiligen Wirtschaft reine, fremdbestimmte Zweckverbindungen geworden. Der zweckrationalen "Durchökonomisierung" des Lebens hielt Kropotkin zeitlebens seine kollektivistischen Alternativen entgegen.
Diesem weltgeschichtlichen Status quo, der nicht nur vom Kapitalismus, sondern auf der anderen Seite auch von den Bestrebungen des zentralistischen Sozialismus (Marxismus) geprägt war, hielt Kropotkin unbeirrt seine antiautoritären Konzeptionen entgegen. Echten Fortschritt sah er nur im Ideal des "kommunistischen Anarchismus" verwirklicht, als dessen Voraussetzung er eine soziale Revolution betrachtete. Mit Blick auf die Dritte Republik galt seine Kritik an der Französischen Revolution (die durch und durch bürgerlich war) v. a. dem Umstand, dass der politischen Revolution keine soziale nachgefolgt sei, denn nur diese könne zur Beseitigung des Staates führen. Aus der Rückabwicklung der modernen Arbeitsteilung würde, so die Vorstellung, eine dezentrale, kleinindustrielle und landwirtschaftliche Produktion hervorgehen. Die autonomen Wirtschaftsvereinigungen, die den eigenen Konsumbedarf decken sollten, würden die regionalen, die nationalen und die internationalen kapitalistischen Verflechtungen aufbrechen. Mehr Unabhängigkeit, mehr Überschaubarkeit und Selbstbestimmung in allen wirtschaftlichen Fragen würden die Folgen sein, so Kropotkins Schlussfolgerung. Dass er damit einen "Mehrfrontenkrieg" kämpfte, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es nicht nur den Staat und den Kapitalismus (sowie die dahinterstehende Ideologie des Liberalismus) zu "beseitigen" galt, sondern gleichzeitig gegen die dominierende Fraktion innerhalb der Arbeiterbewegung selbst – die autoritäre, "staatsgläubige", marxistische Linke – opponiert werden musste. Und selbst innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es Konflikte mit Vertretern des "individualistischen" Flügels. Diesem wäre klarzumachen gewesen, dass nicht die Freiheit eines isolierten Einzelnen zu propagieren sei, sondern dass die Freiheit des Einzelnen, weil der Mensch ein Gemeinschaftswesen ist, nur als eine mit anderen Menschen zusammenhängende Freiheit, eine in Kollektivität gedachte sein könne. Insbesondere der Konflikt mit den Marxisten kann als Beleg dafür gelten, dass sich der von Kropotkin geortete geschichtliche Grundkonflikt zwischen den beiden geistigen Mächten – der "römischen" und der "volkstümlichen" Tendenz – auch innerhalb der sozialen Bewegung fortgesetzt hat: als Antagonismus zwischen dem zentralistischen und dem föderalistischen Sozialismus. Insgesamt kann Kropotkins "Geschichtsphilosophie" als "optimistisch" gelten, weil er daran glaubte, dass sich die sozialen "Instinkte" des Menschen letztlich durchsetzen und damit die "widernatürlichen" Herrschaftsformen langfristig überwindbar sein würden.
Von der Pariser Kommune zur Spanischen Revolution - anarchistische "Erfolge"
Der Anarchismus war nie eine wirkmächtige, realpolitische Gestaltungsbewegung. Dennoch konnte er einige temporäre "Erfolge" für sich verbuchen. Als erster historischer Versuch, durch Formen der Selbstorganisation gegen die herrschende Zentralmacht freiheitliche Verhältnisse durchzusetzen, gilt die "Pariser Kommune" von 1871. Der Französischen Revolution kommt, was das Aufbegehren gegen politische Unterdrückung anbelangt, eine zentrale historische Rolle zu. Dennoch blieb sie, da sie letztlich eine vom Bürgertum getragene politische, aber keine zugleich soziale Revolution darstellte, in Bezug auf die Frage nach der wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen unvollkommen. Sie glich eher einem Kampf der Reformkräfte des Groß- und Bildungsbürgertums gegen die feudal-ständischen Traditionen. Insbesondere nach dem Sieg der Girondisten und der Hinrichtung des Jakobiner-Führers Robespierre, der anstelle einer konstitutionellen Monarchie eine soziale Republik favorisierte, war die Wende zugunsten der Bourgeoisie besiegelt, und die Revolution kam zum Erliegen. An die Stelle der alten Herrschaftsverhältnisse trat die neue Kluft zwischen den (groß)bürgerlichen und den unteren Gesellschaftsschichten. Während des Ersten Kaiserreichs unter Napoleon Bonaparte sowie in den anschließenden Jahrzehnten der Restauration verband sich das Großbürgertum mit der Aristokratie, was ein Wiederaufblühen der Monarchie zur Folge hatte. Auch die Julirevolution von 1830 brachte für die proletarischen Unterschichten keine Verbesserung, es setzte sich abermals das Großbürgertum durch. Die "Julimonarchie" unter dem "Bürgerkönig" Louis Philippe wurde zum goldenen Zeitalter des französischen "Geldadels". Nach der Niederlage des Zweiten Kaiserreichs unter Napoleon III. gegen die deutschen Länder 1871, kam es zur Belagerung der französischen Hauptstadt durch deutsche Verbände. In Paris bildeten sich spontan aufständische Gruppen, bestehend aus Nationalgardisten, linksliberalen Bürgerlichen, Sozialisten und Anarchisten, die sich die Verteidigung der Stadt zum Ziel gesetzt hatten. Gleichzeitig war es eine Erhebung gegen die sozialen Missstände, die durch die innenpolitischen Maßnahmen der konservativen französischen Zentralregierung herbeigeführt worden waren. Es kam zur Bildung der Pariser Kommune, die die Hauptstadt zur unabhängigen und freien Stadt erklärte. Regierung und Beamtenschaft sahen sich gezwungen, nach Versailles auszuweichen. Der demokratisch gewählte Gemeinderat verkündete die allgemeine Volksbewaffnung und ordnete die Verteidigung Paris' sowohl gegen die deutschen Besatzungs- als auch gegen die französischen Regierungstruppen an. Die errungene Autonomie sollte um jeden Preis verteidigt werden. Zudem war die gewählte Körperschaft bestrebt, menschenwürdige soziale Verhältnisse herzustellen. Es wurden zahlreiche Dekrete erlassen – angefangen von der Trennung von Kirche und Staat bis hin zur Kollektivierung zurückgelassener Fabriken, die durch kooperative Arbeiterassoziationen betrieben werden sollten. Unter völliger Abwesenheit übergeordneter staatlicher Strukturen ist es gelungen, alle Belange des öffentlichen Lebens weitgehend zu regeln, und zum ersten Mal wurde damit die Idee der kommunalen Selbstverwaltung in die Praxis umgesetzt. Nach diesem Vorbild strebten insbesondere die Anhänger Blanquis für ganz Frankreich eine föderalistische Republik, einen Verbund freier Kommunen an. Obwohl dem Pariser Aufstand keinerlei organisatorische Planung vorausgegangen war, er sich vielmehr spontan entwickelt hatte, war er keine im eigentlichen bzw. ausschließlichen Sinne anarchistische Angelegenheit. Unter den Kommunarden befanden sich neben Anhängern des Revolutionärs Blanqui auch sozialistisch-kommunistische Anhänger der Ersten Internationale. Dennoch feierten sowohl Bakunin und Kropotkin (auf anarchistischer Seite) als auch Marx sowie Führer der Sozialdemokratie (auf marxistischer Seite) den Aufstand als den ersten Versuch der Verwirklichung eines staatenlosen Gesellschaftsverbands. Erstmals habe sich, auch wenn der zu zahlende Preis ein hoher war, gezeigt, dass das Herrschaftskartell aus politischer, ökonomischer und klerikaler Macht zu brechen sei und dass durch Selbstorganisation freiheitliche Verhältnisse hergestellt werden können. Letztlich musste sich die Pariser Kommune nach siebzig Tagen ihres Bestehens den Regierungs- und Besatzungstruppen geschlagen geben. Den Massakern fielen mindestens 25.000 Kommunarden zum Opfer. Was von der Pariser Kommune blieb, war die Gewissheit, dass es in ihr zum ersten Mal in der Geschichte in ganz praktischer Weise um jene Fragen gegangen war, die die gesamte weitere Geschichte der politischen Ideen beeinflussen sollte – Demokratie oder Diktatur, Rätesystem oder Parlamentarismus, Sozialismus oder Wohlfahrtskapitalismus. Auch bildete sie einen ersten Kristallisationspunkt innerhalb der linken Bewegung, wobei die autoritäre Fraktion in weiterer Folge die Oberhand gewinnen sollte und die Anarchisten um Bakunin bereits im Jahr darauf aus der Internationalen Arbeiterassoziation ausgeschlossen werden sollten. Bis heute gilt die Pariser Kommune, gegen alle staatlichen Ansätze gerichtet, als Vorbild der Rätedemokratie.
Die "Pariser Kommune" von 1871 gilt als der erste historische Versuch, durch Formen der Selbstorganisation gegen die herrschende Zentralmacht freiheitliche Verhältnisse durchzusetzen. Im Jahr darauf, 1872, kam es zum großen Bruch innerhalb der Linken – zwischen der autoritären (marxistischen) und der freiheitlichen (anarchistischen) Fraktion.
Ganz ohne den Einfluss der bürgerlichen Aufklärung entstanden anarchistische Tendenzen in Mexiko, das seit jeher von Aufständen gegen in- und ausländische Machthaber sowie einem extremen Gefälle zwischen Arm und Reich geprägt gewesen war. 1821 erklärte Mexiko, nach fast 300-jähriger spanischer Vorherrschaft, seine staatliche Unabhängigkeit und gab sich eine republikanische Verfassung. Die desaströse soziale Lage der breiten Massen (der Landbevölkerung, des Proletariats und v. a. der indigenen Bevölkerung) verbesserte sich dadurch aber nicht, sondern ging weiterhin im Gerangel zwischen Großgrundbesitzern, Vertretern der Staatsmacht und internationalen Finanzinteressen unter. 1876 putschte sich General Porfirio Díaz an die Macht und entwickelte sich im Laufe seiner 35-jährigen Regierungszeit zum Diktator. Er kooperierte mit den Großgrundbesitzern, dem Klerus und ausländischen Finanzakteuren, was ab 1910 zu einem Aufstand der recht- und landlosen Campesinos (Landarbeiter) führte. Als Beginn der Revolution gilt der Aufruf zum Sturz des Díaz-Regimes durch den zuvor in einer fingierten Wahl unterlegenen Francisco Madero aus dem Gefängis von Luis Potosí heraus. Zu den Hauptakteuren der anschließenden Kämpfe gegen Díaz und den bekanntesten Namen der Mexikanischen Revolution insgesamt wurden Pancho Villa im Norden und Emiliano Zapata im Süden des Landes. Im Mai 1911 gelang den Truppen Pancho Villas' nach der Einnahme der Grenzstadt Ciudad Juárez der Sieg, woraufhin sich Díaz ins Exil absetzte. Als auch dessen Nachfolger Madero keine Landreform zustandebrachte, kam es abermals zu Revolten, insbesondere durch die Zapatisten, die eine Restitution des enteigneten Landes an die Dorfgemeinschaften forderten. Madero ließ die Aufstände von der Bundesarmee niederschlagen, die sich aber alsbald gegen Madero selbst erhob. Im Februar 1913 kam es unter der Führung Victoriano Huertas, von den USA unterstützt, zum Staatsstreich und in weiterer Folge zur "Restauration" des porfiristischen Regimes. Der Gouverneur des Bundesstaates Coahuila, Venustiano Carranza, verurteilte den Putsch und erklärte sich zum Anführer der "konstitutionalistischen" Anti-Huerta-Bewegung, der auch die nicht-staatlichen Widerstandsgruppen unter Villa und Zapata angehörten. Nach blutigen Machtkämpfen unter dem Einfluss US-amerikanischer Intervention (diesmal zugungsten der "Konstitutionalisten"), konnte Huerta 1914 besiegt werden. Doch der nächste Bürgerkrieg, jener zwischen den Fraktionen der zerbrochenen Anti-Huerta-Koalition – Carranza auf der einen, Villa und Zapata auf der anderen Seite – sollte folgen. Aus ihm ging im Wesentlichen Carranza als Sieger hervor. Zwar trug dessen neue Verfassung des Jahres 1917 einigen Forderungen der revolutionären Bewegung Rechnung, doch scheiterte die Zustimmung der Arbeiterschaft und der Landbevölkerung an der zögerlichen Umsetzung der Forderungen durch das sozialkonservative Regime. Als sich 1920 Alvaro Obregón an die Macht putschte, verkümmerten die vereinzelten Errungenschaften der Revolution, wie z. B. die unter Zapata erfolgte Enteignung und Verteilung von Boden an die Landlosen im Süden, allmählich wieder. Nutznießer war abermals das Großbürgertum in Gestalt der Großgrundbesitzer. – Aus Anarchismus-theoretischer Sicht interessant an der Mexikanischen Revolution ist die Tatsache, dass anarchistische Ideen erstmals etwa Mitte des 19. Jahrhunderts durch europäische Emigranten nach Mexiko gelangt waren, wo sie sofort auf fruchtbaren Boden stießen. Insbesondere in den dörflichen Gemeinschaften der Indigenen gehörten libertäre gesellschaftliche Strukturen zur Normalität. Zum anderen gab es in Mexiko keine bürgerliche Aufklärung, wie in Europa, wo durch ein breites Bürgertum ein gewisser Puffer zwischen Arm und Reich gegeben war. Durch das Fehlen eines solchen "Mittelstands" waren die Voraussetzungen für einen politisch-sozialen "Radikalismus" in Mexiko bessere als in Europa. Als hauptsächlicher Ideengeber insbesondere für Emiliano Zapata gilt der mexikanische Anarchist Ricardo Flores Magón, der stets für ein Bündnis aller Marginalisierten eintrat und früh die Situation der Indígenas thematisierte. Magón trat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts, noch vor der zapatistischen Bewegung, auf den Plan und forderte in diversen Manifesten unermüdlich die Herbeiführung eines kollektivistischen Anarchismus. Er wurde 1918 in den USA zu 20 Jahren Haft verurteilt und starb nach vier Jahren 1922 im Gefängnis. Zapata selbst wurde durch Verrat bereits 1919 ermordet, Pancho Villa 1923. – Der auch in den Jahrzehnten nach der Revolution weiter schwelende Konflikt zwischen den Interessen der Großgrundbesitzer bzw. den ausländischen Finanzinvestoren und den verarmten Schichten der Landbevölkerung kulminierte erneut 1983 in der Gründung der EZLN, der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (angeführt von "Subcomandante" Marcos), die im Bundesstaat Chiapas ihrer Forderung nach "Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit" mit militärischen Mitteln Nachdruck verlieh. Diese genuin basisdemokratische, neue zapatistische Bewegung wurde insbesondere durch ihren Widerstand gegen die neoliberale Globalisierung der 1990er-Jahre sowie gegen das Freihandelsabkommen NAFTA bekannt.
Die Mexikanische Revolution erhielt ihr ideologisches Substrat von der magonistischen Bewegung, benannt nach dem Anarchisten Ricardo Flores Magón, der Emiliano Zapata den Slogan "Tierra y Libertad" (Land und Freiheit) mit auf den Weg gegeben hatte. In der Staatsdoktrin Mexikos – der sog. "institutionalisierten Revolution" – kommt der Name Magón allerdings nicht vor.
Am Ende des Ersten Weltkriegs lösten Matrosenaufstände in Wilhelmshaven und Kiel die Novemberrevolution aus, die sich auf das gesamte Deutsche Reich erstrecken und in kürzester Zeit zum Sturz sämtlicher Monarchen und Fürsten der deutschen Teilstaaten, einschließlich des deutschen Kaisers Wilhelm II., sowie zur Etablierung von Arbeiter- und Soldatenräten führen sollte. Als erster Monarch war Ludwig III., König von Bayern, geflohen, woraufhin bereits am 7. November 1918 von Kurt Eisner (USPD) die Republik und der "Freistaat Bayern" ausgerufen wurden. Wie im gesamten Reich (bzw. der gesamten am 9. November 1918 von Philipp Scheidemann ausgerufenen "deutschen Republik"), standen auch im "Freistaat Bayern" den sozialistisch orientieren Anhängern der Räterepublik Vertreter eines parlamentarischen politischen Systems, antidemokratische Freikorps und nationalkonservativ gesinnte Reichswehrtruppen gegenüber. Die Spannungen insbesondere zwischen dem parlamentarisch orientierten und dem räterepublikanisch orientierten Lager innerhalb der Linken nahmen nach der Ermordung Kurt Eisners, des ersten bayerischen Ministerpräsidenten, die zu einem Machtvakuum geführt hatte, zu und mündeten in einer Art Parallelstruktur: Auf der einen Seite wählte der bayerische Landtag am 17. März 1919 eine SPD-geführte Minderheitsregierung unter Johannes Hoffmann, auf der anderen Seite riefen am 7. April 1919 der "Zentralrat der bayerischen Republik" unter Ernst Niekisch sowie der Revolutionäre Arbeiterrat die bayerische Räterepublik aus. Da diese vor allem in München ihre Anhängerschaft hatte, sah sich Hoffmann gezwungen, mit seinem Kabinett nach Bamberg auszuweichen, von wo aus er mithilfe der "Republikanischen Schutztruppe" und später durch den massiven Einsatz antidemokratischer Freikorps- und Reichswehreinheiten (entsandt vom SPD-Reichswehrminister Gustav Noske) die Räterepublik bekämpfte. Diese konnte sich gegen die militärischen Angriffe nur gut einen Monat lang (bis zum 3. Mai 1919) zur Wehr setzen und lässt sich nachträglich in zwei Phasen einteilen. In der ersten Phase, die nur sechs Tage lang anhielt, wurde sie vorwiegend von pazifistischen bzw. anarchistischen Intellektuellen geprägt. Zu ihnen zählten die Anarchisten Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ret Marut, der pazifistische Literat Ernst Toller (USPD), Ernst Niekisch (MSPD) sowie der Wirtschaftstheoretiker Silvio Gesell. Mehr als Ankündigungen und Dekrete waren aber aufgrund der kurzen Wirkungsdauer nicht möglich: Landauer, zuständig für Volksaufklärung, schwebte eine Dezentralisierung des Bildungswesens vor; Mühsam, Volksbeauftragter für Äußeres, setzte die noch immer internierten russischen Kriegsgefangenen auf freien Fuß und konnte sie größtenteils für die Räterepublik gewinnen; Marut wurde im "Presseamt" eingesetzt und sollte sich der Zerschlagung der kapitalistischen Pressemonopole widmen; Gesell, Volksbeauftragter für Finanzen, erwog die Praktizierung seiner Freigeldtheorie bei gleichzeitiger Nationalisierung der Banken. Bereits am 13. April, sechs Tage nach ihrer Gründung, kam es von Bamberg aus zu einem Putschversuch gegen die Räterepublik, der von den "Rotgardisten" unter Rudolf Egelhofer (KPD) abgewehrt werden konnte. Die Niederschlagung dieses "Palmsonntagsputsches" markierte den Beginn der zweiten Phase der Räterepublik, die nunmehr von KPD-Mitgliedern dominiert wurde (v. a. Eugen Leviné und Max Levien). Die "kommunistische Räterepublik", die ihre Vorgängerin, die pazifistisch-anarchistische "Erste Räterepublik", als "Scheinräterepublik" belächelt hatte, war in der Umsetzung ihrer Vorstellungen tatsächlich energischer. So kam es zum Verbot der bürgerlichen Presse, zur Konfiszierung von Privateigentum, zum Generalstreik, zu ersten Verhaftungen sowie zur Aufstockung der "Roten Armee" unter Egelhofer auf 10.000 Mann. Bereits am Tag nach dem gescheiterten Palmsonntagsputsch entsandte die SPD-Regierung unter Hoffmann Freikorpseinheiten nach München, die zunächst abermals abgewehrt werden konnten. Nachdem die Reichsregierung selbst in Person des SPD-Reichswehrministers Gustav Noske zusätzlich Reichswehrverbände gegen München zum Einsatz brachte, war die Räterepublik aber nicht mehr zu halten. Die "Weiße Armee" der "Konterrevolution" richtete in München ein regelrechtes Blutbad an. Landauer wurde fast zu Tode geschlagen und später erschossen, Leviné wurde nach einem Prozess hingerichtet, Mühsam kam mit einer Zuchthausstrafe davon, Marut konnte aus der Haft fliehen. – In den kurz andauernden Ereignissen rund um die Münchner Räterepublik manifestierte sich das gesamte Dilemma der politischen Linken: hier die Anarchisten, die sich schwer taten, überhaupt innerhalb der quasi-staatlichen Strukturen mitzuwirken, da die Kommunisten, die die Räterepublik nach russischem Vorbild als "Diktatur des Proletariats" anstrebten, dort die "revisionistischen" Sozialdemokraten, die einen reformerischen Kurs zugunsten eines pluralistischen Parlamentarismus präferierten und zu dessen Durchsetzung bereit waren, unter Zuhilfenahme reaktionärer Milizen sämtliche Rätestrukturen zu zerschlagen, was ihnen von den Kommunisten den Vorwurf des "Sozialfaschismus" einbrachte. Die Tragik der Sozialdemokratie besteht auch darin, dass sich nach der Zerschlagung der Räterepublik das politische Klientel Münchens zu ändern begann und die bayerische Hauptstadt zur "Ordnungszelle" des Rechtsextremismus wurde, in dessen Milieu auch Hitler groß wurde, der später der Weimarer Republik den "Todesstoß" versetzen sollte.

Während die skizzierten anarchistischen "Erfolge" in den Rätebewegungen oder der Pariser Kommune jeweils nur von kurzer Dauer gewesen waren, konnten sich anarchistische Formen der Selbstorganisation in der Spanischen Revolution für einen längeren Zeitraum (von etwa drei Jahren) aufrechterhalten. Und das, obwohl der Anarchismus weltweit seine "Blütezeit" bis zum Ersten Weltkrieg bereits hinter sich hatte. Nicht so in Spanien. Spanien war bis in die 1930er-Jahre hinein mehr agrarisch als industriell geprägt, einhergehend mit einer von einer enormen Spreizung zwischen Arm und Reich gekennzeichneten Sozialstruktur. Vor diesem Hintergrund ist das starke Anwachsen der organisierten Arbeiterbewegung und deren Kampf gegen das repressive ökonomisch-politische System zu verstehen. Die spanische Arbeiterbewegung bestand im Wesentlichen aus zwei gleich starken Blöcken: dem anarchistischen (CNT/FAI) und dem sozialistischen (UGT/PSOE). Von den Anarchisten wurden die Sozialisten, die sich für den "parlamentarischen Weg zum Sozialismus" einsetzten, als "autoritarios" bezeichnet. Zulauf hatte das sozialistische Lager v. a. während der Diktatur Primo de Riveras (1923–1930) erfahren, als die CNT und die gesamte nicht-sozialdemokratische Linke brutal unterdrückt worden war. 1931 wurde die Zweite Spanische Republik gegründet, die von Anfang an unbeliebt war und sowohl von links als auch von rechts unter Druck geriet. 1932 kam es zum ersten Militärputsch unter General José Sanjurjo. 1933 zerbrach die erste Koalition unter Manuel Azaña. Die Nachfolgeregierung unter Alejandro Lerroux nahm die mageren sozialen Reformen zurück, was zu Aufständen und Generalstreiks auf Seiten der Linken führte. Im gleichen Jahr gründete der Sohn des Ex-Diktators Rivera die faschistische Falange Española, die in weiterer Folge zu einem politischen Einflussfaktor werden sollte. Vor den Parlamentswahlen 1936 hatte sich die sozioökonomische und politische Lage derart zugespitzt und polarisiert, dass es zur Bildung zweier Wahlbündnisse kam – der linken "Volksfront" bestehend aus Sozialisten, Republikanern, liberalen Katalanisten, Stalinisten und Links-Marxisten (unterstützt von den Anarchisten) auf der einen und der rechten "nationalen Front" bestehend aus Katholiken (CEDA), Monarchisten und Karlisten auf der anderen Seite. Zwar gewann das Volksfront-Bündnis die Wahl, als es aber zu einer Regierungsbildung unter der Führung bürgerlicher Republikaner und unter Ausschluss der Sozialisten kam, radikalisierten sich weite Teile der Lohnabhängigen und der UGT. Gleichzeitig radikalisierte sich der rechte Diskurs, der Putsch gegen die Zweite Republik wurde offen geplant. Im Juli 1936 kam es unter der Führung der Generäle Mola, Sanjurjo, de Llano und Franco von Spanisch-Marokko aus zum Staatsstreich. Dass dieser nicht unmittelbar von Erfolg gekrönt war, sondern sich zu einem langwierigen Bürgerkrieg auswachsen sollte, lag an dem Widerstand der Arbeiter. Überall dort, wo sie die Putschisten zurückschlagen konnten, kam es gleichzeitig zu einer sozialen Revolution - v. a. in Katalonien, wo die anarchistische CNT dominierte. Während die katalanische Regionalregierung aufgehört hatte zu existieren, übernahmen überall Arbeiterkomitees die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Sinnbild für die anarchistische Revolution war Barcelona. Zuerst wurden die zuvor unwirtschaftlichen Verkehrsbetriebe fusioniert und sozialisiert, die nach kurzer Zeit reibungslos funktionierten und trotz Senkung der Ticketpreise keine roten Zahlen mehr schrieben. Auch die Eisenbahnen, die Telefon-, Gas- und Elektrizitätsgesellschaften wurden von Komitees übernommen und arbeiteten effektiver als zuvor, ebenso das Hotel- und Restaurantgewerbe, die Textilindustrie, die Theater, Kinos und das Pressewesen. Nach und nach wurden so bis zu 70% aller katalonischen Gewerbebetriebe kollektiviert. In der für den Bürgerkrieg wichtigen Rüstungsindustrie kam es unter der Kontrolle der Arbeiter zu enormen Produktivitätssteigerungen. Hinzu kam eine agrarische Revolution, in der sich Landarbeiter und Bauern des Kirchenlandes und des Landes der Großgrundbesitzer bemächtigten. Abgelehnt wurde die soziale Revolution hingegen von den Kommunisten (PCE). Diese wurden im Zuge der Internationalisierung des Spanischen Bürgerkriegs von der Sowjetunion unterstützt, wobei sich diese "Unterstützung" sowohl für die soziale Revolution als auch indirekt für den Kampf gegen den Franco-Faschismus als nachteilig herausstellen sollte (die Nationalisten wurden ihrerseits von Italien und dem Deutschen Reich sowohl finanziell als auch logistisch/militärisch unterstützt). Auf Stalins Befehl hin kam es zu politischen Säuberungen in den anarchistischen Hochburgen, deren Ziel es war, die Anarchisten der CNT und die links-marxistischen, anti-stalinistischen POUMisten zu liquidieren. Diese Aktionen glichen den "antitrotzkistischen" Säuberungen im Nachgang der russischen Oktoberrevolution und schwächten die republikanischen Kräfte im laufenden Bürgerkrieg gegen die Franquisten. Ab 1937 gelang es der katalonischen Regierung und der Kommunistischen Partei zunehmend die Kontrolle zurückzuerlangen. Während sich damit die republikanischen Kräfte selbst schwächten, gewannen ab Mai 1937 die Truppen Francos mehr und mehr die Oberhand, v. a. im Norden Spaniens, wo die Legion Condor wahllos Bombardements auf Durango und Guernica durchführte. 1938 gelang es den Nationalisten, das republikanisch kontrollierte Gebiet in zwei Teile zu spalten. Auch die letzte Offensive der republikanischen Streitkräfte, durch die die getrennten Gebiete wieder miteinander verbunden hätten werden sollen, blieb erfolglos. Im April 1939 war der Bürgerkrieg offiziell beendet.
Die Spanische Revolution gilt als historisch bedeutsamste praktische Umsetzung anarcho-syndikalistischer Ideen von Selbstorganisation und Selbstverwaltung. Sie scheiterte letztlich nicht nur an den Truppen Francos, sondern am "innerrepublikanischen" Widerstand durch die Kommunisten.
...was man vom Anarchismus immer noch (nicht) lernen kann.
Was folgt nun aus alledem? Lassen sich, nachdem wir unsere historischen Kenntnisse zum Thema "Anarchismus" aufgefrischt haben, Ableitungen treffen, die im Hinblick auf die derzeit vorherrschenden politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse relevant sein könnten? Ist mit der Globalisierung des (Neo)Liberalismus in Kombination mit der (jedenfalls im Westen) parlamentarisch-demokratisch organisierten Staatlichkeit tatsächlich die letzte Stufe des "Fortschritts" erreicht, oder gilt es womöglich doch, Fehlentwicklungen einzugestehen und zu korrigieren? – Wir wollen darauf keine Antworten geben, sondern versuchen, die gegenwärtig "tonangebenden" politischen Strömungen sowie die von ihnen (teils explizit, teils implizit) vertretenen gesellschaftlichen Konzeptionen in einer Art Kategorienraster so zu konturieren, dass neben den Unterschieden auch deren Gemeinsamkeiten sichtbar werden. Um möglichst systematisch vorgehen zu können, scheint es hilfreich, die verschiedenen Gesellschaftsmodelle anhand ihrer jeweiligen Präferenzen in den Bereichen "Wirtschaft", "Gesellschaft" sowie "Staat/Regierungsform" einem Vergleich zu unterziehen. Es ergeben sich dabei die unterschiedlichsten Kombinationsformen, durch die zudem zum Ausdruck gebracht wird, dass das alte "Links-Rechts-Schema" zu kurz greift. –
Wir haben unsere Abhandlung damit begonnen, den Anarchismus innerhalb des gewöhnlichen Klassifikationsschemas am äußersten linken Rand zu positionieren und ihm die Attribute "libertär", "egalitär", "progressiv" sowie "rätedemokratisch" zugewiesen. Möchte man nun den Anarchismus, der weder Staat noch Parteien kennt, mit der politischen Landschaft in Beziehung setzen, wie wir sie heute vorfinden, so bietet sich, da diese in allen parlamentarisch-demokratischen Staaten von politischen Parteien geprägt wird, ein Vergleich mit diesen Parteien an – den sozialdemokratischen, den "bürgerlichen" sowie den (neuen) rechten (demokratische Linksparteien sind, abgesehen von der ökologischen Bewegung, wenig relevant). Um die Gemeinsamkeiten insbesondere der sozialdemokratischen sowie der "bürgerlichen" Parteien – die als "Block" bezeichnet wurden – herausstreichen zu können, ist es sinnvoll, den Möglichkeitsraum für Differenzen zu erweitern, und zwar durch die Aufnahme heute realpolitisch nicht mehr relevanter Strömungen in den dadurch breiter werdenden, gleichsam "absoluten" Bezugsrahmen. Gemeint ist neben dem Anarchismus auch der (autoritäre) Kommunismus (und Faschismus).
Dass sich die Sozialdemokratie, wie wir gesehen haben, im Laufe ihrer langen Geschichte "verbürgerlicht" hat, ist evident. Sie hat sich von einer marxistischen Klassenpartei zu einer der Hauptpromotorinnen der Globalisierung/des Globalismus entwickelt. Auch die "Sozialdemokratisierung" der "bürgerlichen" Volksparteien ist mit Blick auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nicht von der Hand zu weisen. Zu offensichtlich waren die Konzessionen an den universalistischen Zeitgeist insbesondere seit der Jahrtausendwende. Wie lässt sich diese "Verwechselbarkeit" erklären? – In wirtschaftlicher Hinsicht hängen beide Parteien der globalisierten Form des Wirtschaftsliberalismus an bzw. haben sich diesem gleichsam fatalistisch ergeben. Mit ihrer impliziten Bejahung des Kapitalismus vertreten beide Parteien unausgesprochen das Konzept des "Fortschritts" im Sinne einer – durchaus (natur)zerstörerischen – Ideologie des quantitativen "Mehrs" sowie des (scheinbar möglichen) infiniten "Wachstums". Somit sind, was die Technikfrage anbelangt, beide Parteien (im negativen Sinne) "progressiv". In diesem Weltbild (technischer Naturbeherrschung) ist kein Platz für wirtschaftlichen Antimodernismus. Es gilt als denkunmöglich, der scheinbar natürlich gewachsenen "Ordnung" des Kapitalismus/Liberalismus – eines formalstaatlich garantierten Systems privater Profitmaximierung – Konzepte von Subsistenz, Bedürfnisorientierung, Regionalität oder Nachhaltigkeit entgegenzustellen, oder die Wirtschaft gar als ein (relativ unbedeutendes) Mittel zum Zweck innerhalb normintegrierter (naturkonservierender) Gemeinschaften zu begreifen. Dem Primat der Wirtschaft (des Wachstums, der Quantität, des Marktes) wird in diesem ökonomistischen Weltbild keinerlei Politik gefährlich – weder wird die Wirtschaft gesellschaftlichen Normvorstellungen subordiniert, noch wird Politik prinzipiell als etwas anderes denn als rein formal-regulatorische Instanz zur Sicherstellung individueller (Eigentums)Rechte begriffen. Zur Aufrechterhaltung des Systems bedarf es zwar einiger nachträglicher Korrekturen im Sinne einer Umverteilung des marktwirtschaftlich generierten Reichtums, die "soziale Marktwirtschaft" ist aber weniger eine Gefahr, als vielmehr eine Stütze für den Kapitalismus. Die Sozialpartnerschaft ersetzt den Klassenkampf und sorgt dafür, dass es durch fortgesetztes Wirtschaftswachstum (quantitativ betrachtet) allen immer besser geht (oder gehen soll). – Auch hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Vorstellungen sind sozialdemokratische und "bürgerliche" Parteien kaum zu unterscheiden. Beide verstehen sich als Vertreterinnen des gesellschaftlichen Liberalismus. Sie betonen, in der Tradition der Aufklärung zu stehen und protegieren die Anthropologie des Individualismus (Partikularismus) bzw. des (menschenrechtlichen) Universalismus. Die nivellierenden Tendenzen, die der Egalitarismus auf alles Gewachsene, Kulturelle ausübt, werden entweder als Einebnung ungerechter historischer Hierarchien begrüßt oder der wirtschaftlichen "Sekurität" geopfert. Der Unterschied zum "reinen" Liberalismus besteht darin, dass die sozialdemokratische Seite dem individualistischen Partikularismus nachträglich mit einer abstrakten Form von ("sekundärer") Solidarität der "Gesellschaft" (vs. konkrete "primäre" Solidarität der "Gemeinschaft") begegnet und damit an einer konstruktivistischen "Identität" des "Ganzen" festhält, die durch den anonymen Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat verkörpert wird. Gleichzeitig löst der Globalismus alle natürlichen, konkreten, gewachsenen kollektiven und individuellen Identitäten (bis hin zur Geschlechtsidentität) auf. Auf der "bürgerlichen" Seite ist zu beobachten, dass der allgemeinen individualistischen Indifferenz zumindest rhetorisch von Zeit zu Zeit versucht wird, Identitäten privater Mikro-Gemeinschaften abzuringen. So kann etwa von "Familie" die Rede sein, mitunter sogar als "Keimzelle" des Staates, dem selbst allerdings keine eigene Makro-Identität zukommt (es fällt Bürgerlichen besonders schwer, von "Volk" oder "Nation" zu sprechen). – Die Staats- bzw. Regierungsform, die der herrschende "Block" präferiert, ist die repräsentativ-"demokratisch" organisierte parlamentarische Republik. Sie entspricht (in Analogie zum wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Liberalismus) den Anforderungen des politischen Liberalismus, in dessen Zentrum die Begriffe "Individuum" und "Rechtsstaat" stehen. Die parlamentarische Demokratie birgt allerdings die Gefahr in sich, zu einer Entkoppelung zwischen dem Mehrheitswillen des Volkes und dem Mehrheitswillen der "Repräsentanten" des Volkes und damit zu einer Aufhebung der Volkssouveränität bzw. der Demokratie im eigentlichen (Rousseau'schen) Sinne zugunsten einer Parlamentssouveränität zu führen (in fataler Weise zuletzt in der "Corona-Zeit" der Fall). Eine falsche Vorstellung von "Repräsentation" führt dazu, dass die intermediären Instanzen (Parteien, Interessensverbände, Parlamentarier usw.) zwischen den Wahlen ein "Eigenleben" entwickeln, das sich dem Mehrheitswillen des Volkes entfremdet bzw. diesem zuwiderhandelt. Die meisten parlamentarischen Regierungssysteme gleichen heute tatsächlich (plutokratischen) Oligarchien. – Es lässt sich also zeigen, dass die Gemeinsamkeiten der (ehemaligen) Volksparteien des politischen Zentrums deren Unterschiede bei weitem überwiegen. Die Tatsache, dass in allen drei Bereichen ("Wirtschaft", "Gesellschaft" und "Politik") der Liberalismus die leitende Philosophie darstellt, erklärt, dass es heute keine liberalen Parteien mehr gibt/braucht bzw. diese sehr klein ausfallen (insbesondere bis zum Zweiten Weltkrieg musste sich das liberale Zentrum noch gegen die alte, antikapitalistisch/antiliberale extreme Linke und die alte, antikapitalistisch/antiliberale extreme Rechte sowie gegen kapitalistisch/antiliberale Konservative und etatistische Sozialdemokraten durchsetzen; geblieben sind ausschließlich die Letzteren).
Sozialdemokratische und "bürgerliche" Parteien sind sich deshalb so ähnlich, weil sie die Maximen sowohl des politischen als auch des wirtschaftlichen und des gesellschaftlichen Liberalismus teilen. Früher lehnten linke Parteien den wirtschaftlichen und rechte Parteien den gesellschaftlichen Liberalismus ab.
Die (neue) politische Rechte hat – verstärkt in den letzten zehn Jahren – jenen Raum gefüllt, der durch die "Sozialdemokratisierung" der "Bürgerlichen", d. h. durch das (gesellschaftliche) Nach-links-Rücken der ehemals Konservativen, entstanden ist. In wirtschaftlicher Hinsicht unterscheidet die Rechte kaum etwas von der sozialdemokratisch-bürgerlichen Mitte. Auch die Rechte ist "libertär", d. h. ausgesprochen wirtschaftsliberal. Im Unterschied zu den Parteien des politischen Zentrums, insbesondere zur Sozialdemokratie, werden eine weniger sozial ausgerichtete Marktwirtschaft sowie ein etwas schlankerer (formaler) Staat gefordert (auch von rechts wird so gesehen zum Bedeutungsverlust liberaler, anti-etatistischer Parteien beigetragen). Mit ihrer expliziten Bejahung des Kapitalismus, einer weitgehend deregulierten Marktwirtschaft und der Ideologie infiniten Wachstums und "Fortschritts" ist die (neue) Rechte die prononcierteste Vertreterin der (naturzerstörerischen) Ideologie des quantitativen Mehrs und zudem nicht bereit, selbige auf eine ökologische Basis zu stellen (vgl. z. B. das Festhalten an fossiler Energie). Auch die politische Rechte ist technisch-ökonomisch betrachtet also modern, d. h. (im negativen Sinne) "progressiv"; antimodernistischer (Natur)Konservatismus wird als fortschrittsfeindlicher Romantizismus und "degrowth" disqualifiziert. Auf der anderen Seite treten Proponenten der (neuen) Rechten je nach nationaler Wirtschaftsstruktur z. T. auch globalisierungs- bzw. freihandelskritisch auf, v. a. wenn dies auf Basis quasi-autarker Volkswirtschaften möglich erscheint. Diese Abkehr von der (neo)liberalen Vorstellung einer entgrenzt-homogenen Weltordnung, die nur individuelle ökonomische Partikularinteressen kennt, korrespondiert mit einer ablehnenden Haltung gegenüber dem "Globalismus" als gesellschaftspolitisch wirksamer Komponente der Globalisierung. Die (neue) Rechte zeigt sich bestrebt, sowohl ökonomisch (Globalisierung) als auch gesellschaftlich (Globalismus) individuelle Partikularinteressen zugunsten überindividueller, kollektiver, "nationaler" "Gemeinwohlinteressen" zu relativieren. – In gesellschaftlicher Hinsicht ist die (neue) Rechte im Unterschied zu den sozialdemokratisch-"bürgerlichen" Parteien wertkonservativ und anti-liberal. Der protektionistischen (neo-merkantilistischen) Abkehr von der Freihandelsglobalisierung entspricht ein anti-ökonomistischer "Regionalismus des Kulturellen" im Sinne einer Betonung des kollektiv "Eigenen". Es kommt zu einer Verteidigungshaltung gegenüber einem als überspitzt wahrgenommenen gesellschaftlichen Modernismus, insbesondere gegen den nivellierenden Charakter des Menschenrechtsuniversalismus, und damit einhergehend zur Verteidigung historisch gewachsener, tradierter (individueller und kollektiver) Identitäten ("Anti-Wokeismus"). Im Unterschied zur "bürgerlichen" Seite des politischen Zentrums betont die (neue) Rechte nicht nur Identitäten privater Mikro-Gemeinschaften wie der bürgerlichen Kernfamilie, sondern darüber hinaus (kulturelle, gesellschaftliche und politische) Identitäten von Makro-Gemeinschaften – "Staat", "Volk", "Nation", "Glaubensgemeinschaft". In diesem Sinne ist die (neue) Rechte im Unterschied zu den "Bürgerlichen" klassisch konservativ. – Die Staats- bzw. Regierungsform, die die (neue) Rechte präferiert, ist ebenfalls die parlamentarisch-demokratische Republik. Sie gibt sich allerdings bestrebt, der aus ihrer Sicht gefährlichen Entkoppelung zwischen dem Mehrheitswillen des Volkes und dem Mehrheitswillen des Parlaments durch ein anderes Verständnis von "Repräsentation" (unmittelbare und unverfälschte Umsetzung des Volkswillens) sowie durch den Ausbau partizipativer Elemente zu begegnen, d. h. die "falsch-repräsentative" Demokratie (plutokratische Oligarchie) zu einer (tatsächlich) repräsentativen Demokratie mit direkt-demokratischen Einflussnahmemöglichkeiten auszubauen. Obwohl sich die (neue) Rechte in diesem Sinne der Restauration der "Volkssouveränität" widmet, wird ihr vom "entkoppelten" "Block" der Vorwurf der "Zerstörung der Demokratie" gemacht. Dieser Vorwurf ist formal betrachtet nicht nachvollziehbar, es müssen also inhaltliche Beweggründe gesucht werden. Hier dürfte die Annahme eine Rolle spielen, es ginge der (neuen) Rechten um den Aufbau einer "illiberalen Demokratie" im Unterschied zur "liberalen Demokratie", was auch zutrifft, insofern unter "illiberaler Demokratie" "Demokratie ohne Liberalismus", d. h. aus Sicht der (neuen) Rechten: ohne überspitzten Individualismus, Partikularismus, Universalismus, Ökonomismus usw., verstanden wird. Dabei ist eine "Demokratie ohne Liberalismus" nicht per se weniger demokratisch als eine "Demokratie mit Liberalismus". Nicht nur gleichen viele "liberale Demokratien" Oligarchien, sie sind durch ihr Konzept von "Repräsentation" auch wenig demokratisch. Andererseits können auch "illiberale Demokratien" Oligarchien gleichen, wobei sie durch das Selbstverständnis der herrschenden Klassen demokratischer sein können als "liberale Demokratien" – wenn dem globalismuskritischen Mehrheitswillen entsprochen und der Auflösung von Identitäten entgegenzuwirken versucht wird. Unabhängig davon aber besteht der Hauptwiderspruch, den die (neue) Rechte selbst noch nicht begriffen zu haben scheint, darin, dass sie einerseits überindividuelle, kollektive Normen und Identitäten reaktiviert, diese aber durch das Festhalten am Wirtschaftsliberalismus und der ihm inhärenten Anthropologie (homo oeconomicus) gleichzeitig unterläuft. Dieser Spagat ist inkonsequent. Denn der Wirtschaftsliberalismus will bzw. kennt überhaupt keine überindividuellen Werte und auch keinen inhaltlichen Staat. – Es lässt sich also festhalten, dass die (neue) Rechte in wirtschaftlicher Hinsicht keine wesentlichen Unterschiede zu den sozialdemokratischen und "bürgerlichen" Parteien aufweist, auch nicht hinsichtlich der Staats- bzw. Regierungsform (hier strebt sie sogar eine weitergehende Demokratisierung an). Sie ist also weder "faschistisch" noch "diktatorisch". Sie lehnt allerdings den gesellschaftlichen Liberalismus im Sinne eines aus ihrer Sicht schädlichen egoistischen Individualismus/Partikularismus ab, wie er seit zwei Jahrzehnten die Programmatik der politischen Linken (inklusive der "Bürgerlichen") dominiert und als "Kulturkampf" die politische Bühne betreten hat.
Die (neue) Rechte hat das Erbe der ("sozialdemokratisierten") Konservativen angetreten. Sie steht dem gesellschaftlichen Liberalismus kritisch gegenüber. Globalisierung und Globalismus werden als "Ideologien", die kulturelle Unterschiede und Identitäten nivellieren, abgelehnt.
Größere Unterschiede werden deutlich, wenn wir uns dem autoritären Kommunismus in Gestalt des (real existierenden) Sozialismus zuwenden. Doch auch hier bleiben wesentliche Gemeinsamkeiten bestehen. Wirtschaftlich betrachtet geht es im Unterschied zum globalen Wirtschafsliberalismus (wie bei den sozialdemokratisch-bürgerlichen Parteien) oder zum globalisierungskritischen Wirtschaftsliberalismus (wie bei den neuen Rechten) bei den autoritären Sozialisten um globalen (internationalistischen) "Antikapitalismus". Was aber aufs Erste nach dem exakten Gegenteil klingt, ist bei näherer Betrachtung dasselbe unter verkehrten Vorzeichen. Denn es ändern sich "nur" die Produktionsverhältnisse im Sinne der Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln, es ändert sich nicht die Produktionsweise selbst hinsichtlich ihrer technischen Basis und Gestalt. "Antikapitalismus" bedeutet nicht Antimodernismus, sondern Hypermodernismus, nicht naturkonservierende Fortschrittskritik, sondern technisch-ökonomische Naturbeherrschung und -überwindung. Die gemeinsame Basis aller genannten politischen Strömungen bildet die moderne Fortschrittsideologie, und in diesem Sinne sind alle (im negativen Sinne) "progressiv" – kapitalistisch-progressiv oder antikapitalistisch-progressiv. Der Kommunismus ist so gesehen eine Art "Staatskapitalismus", planwirtschaftlich organisierte Naturtransformation. – Gesellschaftlich betrachtet etabliert der autoritäre Sozialismus einen "progressiven Antiliberalismus", d. h. es geht nicht um eine Rückkehr zu überindividuellen, kollektiven Entitäten im Sinne einer "Reaktion" (Aristokratie, Monarchie, Bourgeoisie etc.), sondern um die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft und des liberalen Individualismus/Partikularismus zugunsten einer neuen, einheitlichen "Klassen-Identität" (die in der "klassenlosen Gesellschaft" mangels Differenz überhaupt aufhört, eine Identität zu sein). Unter Berücksichtigung des internationalistischen Impetus handelt es sich, wenn man so will, um eine Art "klassen-identitären Globalismus", der im Unterschied zum gesellschaftsliberalen Globalismus kollektive und individuelle Identitäten nicht auflösen, sondern überformen will. Beide Homogenisierungs-Bewegungen (Subversion, Überformung) zeitigen ähnliche Resultate der Indifferenz. Im Westen ist es der Mensch als aufgelöstes postmodernes Fluidum, im Osten der im Kollektiv aufgehende "Massenmensch" ohne individuelle Konturen. – Was die Staats- bzw. Regierungsform anbelangt, geht der autoritäre Sozialismus mit Diktatur und Ein-Parteien-Herrschaft einher. Der Staat ist kein rein formaler "Rechtsstaat" zur Absicherung individueller Eigentumsrechte, die vor dem Hintergrund der marxistischen Theorie gerade abgeschafft werden sollen, sondern er ist "breit", autoritär und inhaltlich geprägt, d. h. auf die Erreichung eines vermeintlichen "Guts" des gesellschaftlichen Ganzen hin angelegt, dessen Durchsetzung mit repressiven Mitteln erfolgt. – Selbiges gilt für den Faschismus. Er ist autoritär, geht mit Diktatur, Ein-Parteien-Herrschaft sowie mit einer Führergestalt (nicht weniger als im Kommunismus) einher. Insofern der Faschismus ein Sozialismus ist, handelt es sich nicht um den internationalistischen linken Sozialismus des Klassenkampfes, sondern um einen nationalen rechten "Sozialismus", der in antiliberaler Weise die völkische Einheit über alle "Klassen" und Gesellschaftsschichten hinweg betont. Der Faschismus ist mehr als der Kommunismus mit Nationalismus und Rassismus verbunden.
Ganz anders stellt sich der Anarchismus dar, dem wir in der vorliegenden Abhandlung unser Augenmerk geschenkt haben. In wirtschaftlicher Hinsicht finden wir bei ihm im Unterschied zu allen anderen Parteien/Strömungen (globaler Wirtschaftsliberalismus, globaler "Antikapitalismus") keinerlei Globalperspektive vor. Weder wird der globale Kapitalismus (durch Liberalismus/Neoliberalismus) theoretisch zu rechtfertigen, noch wird er unter die "Kontrolle" des Staates zu bringen versucht (sei es im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft oder einer Planwirtschaft). Der Anarchismus ist ein Ansatz von unten, seine Perspektive ist eine regionale. Er lehnt im Grunde das gesamte, über Jahrhunderte entstandene und immer komplexer gewordene globale "Wirtschaftsgetriebe" ab – er kennt keine Weltwirtschaft, keine internationalen Märkte, keine Volkswirtschaften, keine zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen, keine Banken, nicht einmal zinstragendes Geld. In diesem Sinne kann er auch nicht als "fortschrittlich" bzw. (im negativen, naturzerstörerischen Sinne) "progressiv" bezeichnet werden. Was den technisch-technologischen Aspekt anbelangt, stehen sich die vermeintlichen Antipoden Kapitalismus und Kommunismus deutlich näher als jeder von ihnen für sich betrachtet dem Anarchismus. Dieser präferiert im Prinzip eine sehr kleinstrukturierte, von Arbeitsteilung weitgehend befreite, landwirtschaftlich, handwerklich und kleinindustriell geprägte Güterproduktion und ist so gesehen beinahe "antimodernistisch" (mit Ausnahme der Syndikalisten, die auf einer bereits hoch entwickelten industriellen Wirtschaft aufsetzen). In dieser kleinstrukturierten Wirtschaft geht es dem Anarchismus nicht um individuellen Profit (wie dem modernen Liberalismus/Kapitalismus), sondern um kollektive Bedürfnisbefriedigung auf Basis vertraglicher Vereinbarungen auf möglichst kleiner regionaler Ebene (Kommunen/Gemeinden). Anarchistisch orientierte Gemeinschaften sind in diesem Sinne auch deshalb "normintegriert" und "antimodern", weil sie die Wirtschaft nicht aus der Gesellschaft herauslösen und sie dieser als maßgebliches Absolutum gegenüberstellen, sondern sie als ein notwendiges Mittel zum Zweck (des wirtschaftlichen Auskommens) in die gesellschaftlichen Strukturen einbetten. – Gesellschaftlich betrachtet könnte man von einem "kollektivistischen Gesellschaftsliberalismus" sprechen, der den Anarchismus charakterisiert. Zwar geht auch der Anarchismus vom neuzeitlichen Individuum aus, nicht aber, wie wir bei Kropotkin gesehen haben, im Sinne der liberalen Anthropologie als eines Abstraktums, als einer mit anderen Individuen unverbundenen Monade, sondern als eines sozialen Wesens. Aus dieser "Natur" des Menschen ergibt sich auch die Notwendigkeit zur Kooperation und gegenseitigen Hilfe, d. h. die Pflicht (vs. das abstrakte Recht des abstrakten Individuums im abstrakten "Rechtsstaat"), sich in die Gemeinschaft einzubringen, dadurch das Gemeinsame ins Werk zu setzen, dadurch Anerkennung und Wertschätzung zu erfahren, dadurch seine Bestimmung bzw. sein Telos zu realisieren, dadurch eine Identität zu gewinnen und damit in Sozialität, d. h. nicht nur theoretisch, sondern lebenspraktisch, "frei" zu sein. Damit ist eine Art Zwischenform gegeben zwischen dem reinen Individualismus des Liberalismus und dem reinen Kollektivismus des Kommunismus/Faschismus. Im Unterschied zum antimodernistischen Konservatismus ist der Anarchismus tendenziell "ökonomistisch", insofern er fast alle gesellschaftlichen Fragestellungen vom "Materiellen" (Ökonomischen) her denkt und eigentlich nichts "Spirituelles" an sich hat. Zwar hält er mit der Existenz regionaler (Produktions)Gemeinschaften an gewissen Formen kollektiver Identität fest, "völkische" oder anderweitig kulturell-religiöse Meta-Identitäten aber lehnt er ab – und mit diesen auch deren institutionelle Formen wie v. a. den Staat. – So kann mit Blick auf den Anarchismus auch nicht von präferierter Staats- bzw. Regierungsform gesprochen werden. Die anarchistische Organisationsform ist der Vertrag bzw. die freie Vereinbarung; oder auf größerer Ebene die Föderation bzw. die Rätedemokratie. Es handelt sich dabei um ein basisdemokratisches System, bei dem von den kleinsten organisatorischen Einheiten ausgehend, wie etwa Betrieben oder Wohnvierteln, aus deren Mitte heraus Vertreter gewählt werden, die (im Unterschied durchaus zur Praxis parlamentarischer Demokratien) an den Wählerwillen gebunden sind und zur Verhinderung elitärer Führungsstrukturen zumeist einem Rotationsprinzip unterliegen. Aus deren Mitte wiederum werden nach dem gleichen Prinzip Vertreter übergeordneter, etwa regionaler Räte gewählt usw. bis hin zum obersten Rat.
Anarchismus und autoritärer Sozialismus/Kommunismus stehen sich diametral gegenüber - hier Staatslosigkeit, Subsistenzwirtschaft und "kollektiver Individualismus", dort Ein-Parteien-Diktatur, Plankapitalismus und "Einheitsmensch".
Was also kann, abschließend betrachtet, vom Anarchismus gelernt werden? Sowohl politisch als auch ökonomisch betrachtet ist der Anarchismus nicht im Geringsten anschlussfähig, diese Einsicht gebietet der "gesunde" Realitätssinn. Es wäre aussichtslos, an eine "anarchistische Revolution" zu appellieren. Was der Anarchismus aber lehren kann, ist, politische und ökonomische (Macht)Verhältnisse im Allgemeinen kritisch zu hinterfragen und diese nicht als selbstverständlich hinzunehmen bzw. als "natürlich" vorauszusetzen. Die anarchistische Perspektive erlaubt es, die Zusammenhänge zwischen Staat und Kapital grundsätzlicher als sonst, wenn man so will: aus einer systemtranszendenten Position heraus zu analysieren. Eingefahrene, verengende Betrachtungsweisen lassen sich dadurch aufbrechen. So wie einst die Kritische Theorie im "Positivismusstreit" betont hat, dass normative Fragen gestellt werden müssen, wohingegen eine reine Deskription der (falschen) Wirklichkeit zu kurz greift, so könnte man aus gesellschaftskritischer Sicht auch heute die herrschenden Verhältnisse mit den Prinzipien des Anarchismus konfrontieren. Durch das Heraustreten aus der erkenntnistheoretischen Systemimmanenz eröffneten sich dem Bewusstsein größere Möglichkeitsspielräume für die Gestaltung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Realität. – Was die politische Realität anbelangt, so wäre es allerdings nicht nur aussichtslos, die Abschaffung des Staates zu fordern, sondern im gegenwärtigen Stadium menschheitsgeschichtlicher Entwicklung auch gar nicht sinnvoll. Auch gilt es, sich prinzipiell betrachtet ausdrücklich hinter die parlamentarisch-demokratische Staatsform zu stellen, auch wenn sie durch ihre "Machart" als Parteiendemokratie sowie durch ein "ausbaufähiges" Repräsentationsverständnis dazu neigt, ins Plutokratisch-Oligarchische abzugleiten. Hier könnten direkt-demokratische Elemente eine Rückkoppelung der intermediären Repräsentationsinstanzen an den Souverän bewirken. Anarchistisch orientierte Rätedemokraten und parlamentarisch-demokratisch orientierte "Neurechte" würden sich darauf wohl schneller verständigen können als "parlamentaristische" Vertreter der "Blockparteien", die sich als Berufsstand ein eigenes Habitat geschaffen haben. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass sich der liberale, demokratische Staat in den Jahren der "Corona-Pandemie" (einer der wirkmächtigsten Zäsuren der jüngeren Moderne) als instabil und unfähig erwiesen hat, die ihn charakterisierenden individuellen (Freiheits)Rechte nicht vorschnell über Bord zu werfen. Ein "Kartell" aus politischen, ökonomischen und Medieneliten hat sich mit dem autoritären, "rechten" Staat gemein gemacht. Und es waren die Parteien der "Mitte", die sich, gegen den Widerstand der (neuen) Rechten und der "freien" Linken, dabei unrühmlich in Szene gesetzt haben. Seither haben sich im politischen Bewusstsein vieler Menschen die alten Zuschreibungen umgekehrt: Nicht mehr die "Linke", sondern die "Rechte" wird mit Freiheit, Grundrechten, Gewaltenteilung, Staatskritik usw. in Verbindung gebracht, während die Linke (inkl. der "Bürgerlichen") mit Übergriffigkeit, Zensur und Bevormundung assoziiert wird. Die etablierte "Linke" gilt, und auch das dürfte durch die Beschäftigung mit dem "Anarchismus" deutlich geworden sein, vielen nicht mehr als "links", und zwar deshalb, weil sie kaum noch strukturell bedingte "Ungerechtigkeiten" anprangert, sondern positivistisch der wirtschaftsliberalen Globalisierung zuarbeitet, bzw. im Sinne des Globalismus die Auflösung all jener Identitäten forciert, die dem gemeinschaftlichen Leben der Menschen Gestalt und Struktur geben. Gefördert wird dadurch das Entstehen eines post-ideologischen "Totalitarismus", der der kapitalistischen Produktionsweise am adäquatesten ist, weil es keine höheren Ideale mehr gibt, die diese relativieren. – Auch was die wirtschaftliche Realität anbelangt, steht der Anarchismus auf verlorenem Posten. Nichts ist härter in Stein gemeißelt als die moderne Fortschrittsideologie in Gestalt des industrie- und finanzkapitalistischen Weltsystems sowie der Glaube an infinites Wachstum. Bis in die 1970er-Jahre wurde die kapitalistische Kapitalakkumulation durch das fordistische Organisationsregime gewährleistet: Industrielle Massenproduktion, Naturressourcenausbeutung, Nachfragestimulation durch höhere Löhne, soziale Sicherungssysteme, Sozialpartnerschaft/Korporatismus. Der fordistischen Akkumulationskrise durch die (ökonomischen und ökologischen) "Grenzen des Wachstums" folgte ab den 1980er-Jahren zur Aufrechterhaltung der Gewinne die neoliberale, postfordistische Restrukturierung: Abbau sozialer Sicherungssysteme, Privatisierung, Ausweitung der Absatzmärkte, Globalisierung, Freihandel. Es handelt sich dabei im Grunde um ein "Gemeinschaftsprojekt" aller Parteien des politischen Spektrums in allen westlichen Industrienationen. Denn auch die "Arbeitskämpfe" sind im korporatistischen Sinne eine "innerkapitalistische" Angelegenheit zur Aufteilung der "Fortschrittsgewinne". Vormoderne, regional-autarke Wirtschaftsformen ohne Arbeitsteilung und Spezialisierung findet man in der "entwickelten" Welt nicht, und es gibt auch keinen Weg zurück. Allenfalls könnten anarchistische Regionalisierungsbestrebungen mit der Globalisierungskritik in Zusammenhang gebracht werden, die wirtschaftliche Entscheidungsspielräume auf die nationalstaatliche Ebene zurückverlagern will. Auch hier gäbe es Parallelen wohl eher mit der globalisierungskritischen (neuen) Rechten als mit der globalistisch-internationalistischen (neuen) Linken. – Während am herrschenden politisch-ökonomischen Komplex (Kapitalismus und Staat) also nicht zu rütteln ist, scheint der Bereich des Gesellschaftlichen bzw. Sozialen aus anarchistischer Sicht am ehesten geeignet, libertäre Prinzipien zu verwirklichen. Hier kann sich die solidarisch-soziale Natur des Menschen ein Betätigungsfeld abseits der vom Individualismus geprägten Strukturen des wirtschaftlichen und politischen Lebens schaffen. Grundsätzlich existieren "anarchische", d. h. staats- bzw. herrschaftsfreie "Räume" immer schon parallel zu den systemischen Zweckbeziehungen, sei es in privaten, zwischenmenschlichen Beziehungen oder familiären Zusammenhängen, obwohl auch diese zunehmend korrumpiert werden. Ausdruck gemeinschaftlichen Lebens ist stets die Abkehr von der Profitlogik. Das kann sich in Vereinen äußern, in der Nachbarschaftshilfe, in subsistenzwirtschaftlichen Kooperationen usw. In gewisser Weise besteht die Bestrebung des Anarchismus in nichts anderem als darin, die hier geltenden Verantwortlichkeiten und Verhaltensregeln auf größere Gemeinschaftszusammenhänge auszuweiten. Das scheint umso wichtiger, als wir derzeit die gegenteilige Tendenz erleben, dass nämlich die liberale Markt- und Warenlogik derart ins Private einsickert, dass auch zwischenmenschliche Beziehungen zunehmend Warencharakter annehmen und zu "Tauschgeschäften" mutieren, einhergehend mit einer seelisch-psychischen Devastation. In einer Gegenbewegung dazu lässt sich natürlich nicht nur auf den Anarchismus rekurrieren. Zumal ein nicht unproblematischer Aspekt am Anarchismus darin besteht, dass er sich in hohem Maße durch "Transzendenzlosigkeit" auszeichnet, was ihn anfällig macht für eine einseitig materialistische Weltsicht. Tatsächlich sind nicht wenige jener Menschen, die sich heutzutage "Anarchisten" nennen, überdurchschnittlich wissenschaftsgläubig, positivistisch, atheistisch, unspirituell und damit humorlos. Das gilt aber mit Sicherheit nicht für die Vertreter des "historischen" Anarchismus - schon gar nicht für die mexikanischen Indigenen oder die katalonischen Arbeiter.
Literatur zum Anarchismus:
Borries, Achim von/Weber-Brandies, Ingeborg (Hg.): Anarchismus. Theorie - Kritik - Utopie, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2013
Degen, Hans Jürgen/Knoblauch, Jochen: Anarchismus. Eine Einführung, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2019
Lausberg, Michael: Kropotkins Philosophie des kommunistischen Anarchismus, Unrast, Münster 2016