"Finis Germania": eine aristokratische Revolte gegen den Zeitgeist

Wer im Jahr 2021 das schmale Büchlein des deutschen Universalhistorikers Rolf Peter Sieferle mit dem Titel "Finis Germania" rezensiert, mag einerseits etwas spät dran sein, denn der eigentliche Skandal um diese posthum erschienene Schrift (Sieferle verübte 2016 Selbstmord), hatte sich bereits im Jahr 2017 zugetragen. Damals ging ein Schrei der Empörung durch das deutschsprachige Feuilleton, von dem das Werk als "rechtsradikal, revisionistisch und antisemitisch" bezeichnet worden war. Dabei hätte das Büchlein wohl weit weniger heftig "eingeschlagen", hätte es zuvor nicht durch einen "Schildbürgerstreich" eines Spiegel-Sachbuchjurors den Aufstieg zum "Sachbuch des Monats" mit entsprechender Popularität geschafft, um nur kurze Zeit später vom Spiegel selbst von seiner Bestsellerliste entfernt zu werden. Dieser nicht-objektive Akt konnte als "Zensur" empfunden werden und katapultierte das scheinbar gefährliche "Pamphlet" in noch lichtere Absatzhöhen. - Andererseits kann eine Rezension von "Finis Germania" kaum jemals zu spät kommen, denn Sieferles Themen entziehen sich per se jeder tagespolitischen Flüchtigkeit - sie zeichnen sich durch eine Aktualität aus, die, angesiedelt irgendwo zwischen absolutem Tabu und bewusster Zweckentfremdung, auf unthematische Weise omnipräsent ist. Das zeigen die heftigen Reaktionen.
Vorerst sei angemerkt, dass sich "Finis Germania" von Sieferles vorangegangenen Werken im Stil deutlich unterscheidet. Ansonsten sachlich-nüchtern, greift er hier ausgiebig zu den Stilmitteln Sarkasmus und Ironie, ja für manchen Leser mag nicht nur zwischen den Zeilen sogar Zynismus anklingen. Jedenfalls darf man sagen, dass "Finis Germania" ein - vorsichtig formuliert - "überdurchschnittlich subjektiv" ausgefallenes Sachbuch geworden ist. Es fällt schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass nicht auch persönliche Enttäuschung und Verbitterung, etwa über die politische Großwetterlage im Deutschland des Jahres 2015, eine entscheidende Rolle bei der Endfertigung gespielt haben. - Ganz unabhängig aber vom Inhalt, der viel Kritikwürdiges bereithält - das Lesen dieser kondensierten, von Historischem getränkten Fragmente, die letztlich doch eine Einheit bilden, ist "formal-intellektuell" durchaus "genussvoll".
Inhaltlich handelt es sich bei dem besprochenen Werk - wohlgemerkt eines ehemaligen Mitglieds des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) - um eine konservative Kritik der Moderne, oder besser gesagt: um eine Kritik der "Modernisierung", die aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln ins Kreuzfeuer der Kritik gerät: da sind die mannigfachen Nivellierungserscheinungen des "Sozialdemokratismus"; da ist das Leiden an einer sinnentleerten, durchrationalisierten und durchtechnisierten Welt mit der ihr eigenen instrumentellen Vernunft; da ist der allgemeine Kulturverlust im Sinne der Substitution verfeinerter Methoden und Gepflogenheiten "herrschender Klassen" durch "massendemokratische" Niveaulosigkeit; da ist das globale Einebnen-Wollen aller kulturellen Differenz und Eigenheit im Zuge des "Programms" eines "humanitären Universalismus"; da ist der Niedergang des literarisch-"programmatisch" arbeitenden Politikers zugunsten "systemischer" Marionetten; da ist die Auflösung der Familie als einstiges Bollwerk gegen die vollständige Atomisierung der Gesellschaft; da ist letztlich die Auflösung des Menschen selbst in seiner echten, charismatischen Individualität und der damit einhergehende Verlust an "Heimat" im umfänglichsten Sinne, d. h. auch als Sinnentleerung des transzendenzslosen Lebens jedes Einzelnen, der seine existentielle Angst durch bedingungslose Wissenschaftsgläubigkeit glaubt überwinden zu können. Fazit: Es hat etwas von "Dialektik der Aufklärung", wobei Sieferle fast ausschließlich auf die (längst überfällige) Thematisierung ihrer negativen Seiten fokussiert.
Wenn Deutschland zu den fortgeschrittensten, zivilisiertesten, kultiviertesten Ländern gehörte, so konnte "Auschwitz" bedeuten, daß der humane "Fortschritt" der Moderne jederzeit in sein Gegenteil umschlagen kann. So hätte jedenfalls eine skeptisch-pessimistische Lehre aus der Vergangenheit lauten können.
Finis Germania, S. 9
Dann aber gibt es bei seiner "aristokratischen Revolte" gegen den Zeitgeist sein Denken in "völkischen" (jedenfalls konservativen) Kategorien - grundsätzlich, so könnte man sagen, schlicht "historischer Realismus", immerhin war die Geschichte, zumindest aus der Perspektive der Herrschenden und ihrer Geschichtsschreiber, nun einmal eine Geschichte von "Völkern". Sieferle aber scheint es, wenn man so will, "wirklich" um Deutschland zu gehen bzw. um das, was die Deutschen als Kulturnation auszeichnet oder ausgezeichnet hat. Er analysiert nicht mehr nur "rein objektiv" und emotionslos eine historische Problemkonstellation. - Und damit zurück zur "Dialektik der Aufklärung" bzw. zur Inkonsistenz der Modernisierungsthese: Die Gräueltaten des Nationalsozialismus hätten dieser zufolge gar nicht stattgefunden haben dürfen - vielleicht, wie Sieferle sagt, in einem östlichen, noch "vor-modernen" Land, nicht aber in der führenden Kulturnation, im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Um das Fortschrittsnarrativ nicht zu gefährden und die technische Moderne zu retten, musste nach Sieferle aus der Sicht der Apologeten der "Progression" aus dem Nationalsozialismus und seinen abscheulichen Verbrechen eine historische Singularität im Sinne eines "Rückfalls in die Barbarei" gemacht werden. Diese angesichts anderer - etwa stalinistischer - Menschheitsverbrechen narratologisch wenig elegante Ehrenrettung der technischen Zivilisation durch die "Verabsolutierung" des Holocaust (Relativierungsverbot) sowie die Installation des "Antisemitismus-Tabus" führt dem Autor zufolge zu der eigenartigen Konstellation, dass innerhalb einer durch und durch rationalisierten Welt eine Art "Mythos" - etwas jeder Diskussion Enthobenes - entstehe, das der in jeder Hinsicht relativistischen Modernisierung als negatives Absolutum in einer ansonsten in (gewollter) Auflösung befindlichen Welt diene. Die eingangs erwähnten Antisemitismusvorwürfe der im Wesentlichen "linksliberal" geprägten deutschen Literaturszene Sieferle gegenüber gehen also jedenfalls insofern ins Leere, als unter "Mythos" (Sieferle spricht von "Mythos Vergangenheitsbewältigung") das skizzierte Phänomen der "Tabuisierung" im Sinne einer "Diskursverweigerung" verstanden werden soll, nicht aber, wie insinuiert, die Leugnung des Holocaust.
Wenn Sieferle den Eindruck erweckt, einer Zeit "nachzutrauern", so gilt diese "Trauer" der noch nicht vollständig modernisierten deutschen Moderne vor dem Ersten Weltkrieg. Im "preußischen (nationalen) Sozialismus" sieht Sieferle den letzten historischen Versuch, der Modernisierungsthese, die von der untrennbaren Zusammengehörigkeit von technisch-industrieller Entwicklung und liberal-demokratischen Prinzipien ausgeht, zu widersprechen. Sinngemäß habe der "preußische Sozialismus" noch einmal dem Individualismus die Volksgemeinschaft entgegengehalten und könne so als Anstrengung interpretiert werden, eine nicht-atomistische, nicht-liberale Moderne zu etablieren. Während es heute, wie der Autor schildert, eine solche Konstellation bspw. in Japan durchaus gibt, wo sich technisch-industrielle Hypermoderne und nationale Gemeinwohlorientierung im Sinne eines antiemanzipatorischen Kollektivismus verbinden, sei im Westen das Modernisierungsideal universaler Vereinzelung nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent durchgezogen worden. Und damit einher gehen die angesprochenen Nivellierungsphänomene: die irreversible Auflösung der Familie macht die "Gesellschaft" zu einer "seelenlosen" Formation von Partikulärem- ohne einigendes Band, ohne Metaphysik. Mit dem Verlust der unsterblichen Seele im Zuge der naturwissenschaftlichen Reduktion des Menschen auf einen bloßen Organismus geht die Angst vor der Vergänglichkeit einher, die die Menschen in die Arme jener "Technokraten" treibt, von denen sie zuvor verstümmelt worden sind. (Das erinnert auch ein wenig an Agamben und zeitgenössische "Transhumanismus"-Debatten, insbesondere wenn Sieferle den Verlust des "anthropomorphen Raums" anspricht, unter dem er auch die Sphäre des Sozialen versteht.) Aus Menschen aus "Fleisch und Blut", aus Menschen mit Absichten und Emotionen, einem Willen, Charisma, Persönlichkeit und Geist werden indifferente "Objekte". Das gilt insbesondere für die Politik: aus eigenmächtiger, individuell geprägter Entscheidung wird "professionelle" Anbiederung und (teils unbewusst bleibende) Erfüllungskomplizenschaft für den Prozess.
Die Politiker bilden nur noch den Scheitelkamm großer Wanderdünen, die von Elementarkräften bewegt werden.
Finis Germania, S. 62
So sei mit dem Sieg des "Systems" das Zeitalter der "Politik" überhaupt verschwunden - nämlich als Zeitalter, das geprägt gewesen sei von "programmatisch" arbeitenden, intellektuellen Führergestalten, wie etwa Lenin eine gewesen sei, der seine "Ideologie" parallel zur revolutionären Tat noch zu Papier gebracht und damit literarisch reflektiert hatte. Während es in der "Politik" Theorien, Werte, Normatives sowie Personen gebe, die selbige verträten, degenerierten "Entscheidungsträger" im "System", das als sich gleichsam von selbst organisierende Ordnung höherer Komplexität begriffen werden könne, zu bloßen Marionetten eines scheinbar unbeeinflussbaren Geschichtsablaufs. Dessen teleologischer "Höhepunkt" werde in der modernen, technisch-industriell geprägten Weltgesellschaft gesehen. Zwar gebiete das modernistische Relativierungsgebot, wie Sieferle eine von mehreren Paradoxien zu skizzieren versucht, dass prinzipiell auch andere, kollektivistische oder "nicht-moderne" Kulturen anzuerkennen seien, dennoch würden die verschiedenen Formen politisch-gesellschaftlicher Verfasstheit gleichzeitig historisiert und damit hierarchisiert, indem sie auf einer linearen Progressionslinie gedacht würden. Im Westen sei, wie Sieferle schreibt, das vorletzte echte "politische" Programm der Kommunismus gewesen. Und das letzte, der Liberalismus als "Konterrevolution", sei zwar noch teilweise in Kategorien des "Politischen" formuliert worden, d. h. als "Programmatik" aufgetreten, dies aber nur insoweit, als es letztlich dem Zweck gedient habe, die letzten "politischen" Widerstände gegen das "System" aus dem Weg zu räumen.
System hat sich in den fortgeschrittenen "westlichen" Ländern weitgehend durchgesetzt. Der Rest der Welt denkt dagegen noch vielfach politisch - was dem Westen als anachronistischer Fundamentalismus vorkommt.
Finis Germania, S. 48
Deutschland, das Sieferle offensichtlich "am Herzen" lag, sei nach dem verlorenen Krieg zum eifrigsten Verfechter der Modernisierungs-"Agenda" geworden. Dabei spiele - und hier schließt sich der argumentative Kreis - bei diesem deutschen Plädoyer für das Einebnen aller sozialen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede der Welt der "Mythos Vergangenheitsbewältigung" eine zentrale Rolle. Denn jeder, so die für den Autor von "Finis Germania" ernüchternde Erkenntnis, der es wage, das Projekt der Moderne, den humanitären Universalismus (als "kulturelle und materielle Homogenisierung der Menschheit") und damit das Verschwinden der eigenen Identität zu kritisieren, könne und wird (dafür ist Sieferle selbst ein Beispiel) vor dem Hintergrund der "Staatsreligion VB" mit Faschismus- und Antisemitismusvorwürfen bombardiert. Dabei aber könne, wie er seinen Kritikern entgegenhält, die anvisierte "homogene Menschheit" gar nicht existieren, so lange es die in der deutschen Vergangenheitsbewältigung aufrechterhaltenen "völkischen Restposten" (die "Deutschen" und die "Juden") noch gebe. Die Paradoxie werde vollends dann deutlich, wenn man sich bewusst mache, dass andererseits der "Assimilierung" dieser Restposten gerade der "Mythos Vergangenheitsbewältigung" entgegenstehe, der exakt in der Rebellion des Besonderen gegen das Allgemeine seine Daseinsberechtigung habe. -
Abschließend lässt sich festhalten, dass Sieferles konservative Kritik an der Moderne in gewissem Sinne selbst modern ist, d. h. aus der Moderne und damit aus einer Gedankenwelt stammt, die immer schon und trotz "Modernisierung" nach wie vor zutiefst von Kategorien wie "Herrschaft", "Klasse", "Staat", "Hierarchie", "Macht" und dergleichen geprägt ist - auch wenn das "Volk" zur "Bevölkerung" wurde. Und obwohl sich sein Denken auch in positiv-"konservierender" Hinsicht äußert - immerhin wird er nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von infinitem technisch-ökonomischen Fortschritt und endlichen Naturressourcen hinzuweisen -, könnte man die negative Seite seines "konservierenden" Denkens, das Anliegen, die politische Ordnung und Kultur der identitätsbildenden Großreiche des 19. Jahrhunderts gegen allerhand Auflösungstendenzen zu verteidigen, kritisch bewerten. Denn mit derselben Berechtigung könnte man die von Sieferle präferierten Ordnungsvorstellungen als Bedrohung eines historisch noch früheren Zustandes ins Treffen führen, den es seinerseits zu schützen, zu "konservieren", gelte - und zwar gerade vor preußischer "Herrschaft", "Hierarchie", "Macht", "Klassenbildung", "Ausbeutung" usw. - Entspricht es etwa der conditio humana, sein Dasein auf Erden unter solchen Rahmenbedingungen zu fristen? Hat es nicht (lange Zeit) davor möglicherweise ganz andere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens gegeben? Könnte die diagnostizierte geschichtsphilosophische "Zerfallsbewegung" nicht einen viel größeren Zeitraum umfassen als ein paar Jahrhunderte? Könnte etwas "Verbindendes", eine gewisse Form von "Transzendenz", die der nivellierenden Homogenisierung und Atomisierung der Menschheit etwas entgegenzuhalten hat, nicht auch jenseits von "Kirche", "Staat" oder "Volk" gefunden werden? Könnte, ganz praktisch betrachtet, nicht z. B. eine freie Föderation autarker, überschaubarer Verbände dem Ideal menschlicher Vereinigung in sozialer und ökonomischer Hinsicht viel eher gerecht werden als zentralisiert-kapitalistisch verfasste Großreiche oder Staaten, als deren kleinste "Zellen" moderne Kleinfamilien fungieren? Wäre schließlich nicht auch eine nicht-konservative Modernekritik möglich, die früher ansetzt als beim "preußischen Sozialismus"?
Literatur:
Sieferle, Rolf Peter: Finis Germania, Landtverlag, Berlin 2019