'Mensch' und 'Welt' bei Heidegger und Descartes: eine einheitsmetaphysische Kritik

Seit Beginn der Neuzeit, d. h. in Bezug auf die abendländische Philosophiegeschichte: seit Beginn der Subjektphilosophie mit Descartes sowie ihrer späteren Vollendung im Rahmen der 'kopernikanischen Wende', der Grundlegung der modernen Philosophie durch Kant, spielt die Natur als eigenständige, lebendige Realität in philosophischen Überlegungen keine Rolle mehr. Bei Descartes, auf dessen Philosophie sich die Naturwissenschaften auftürmen, verliert sie ihre Lebendigkeit, im Gefolge Kants ihre Eigenständigkeit. Natur ist seitdem passiv, etwas vom handelnden und erkennenden Subjekt her zu Bemächtigendes: im naturwissenschaftlich-technisch-ökonomischen Zusammenhang toter, zu transformierender Rohstoff, im Erkenntnisprozess bestenfalls erst zu formendes Material. Während die Naturwissenschaften die Natur als cartesianische res extensa für sich gepachtet haben, schießen sich die Wissenschaften des Geistes ganz auf das 'Subjekt', den Menschen als Anti-Natur, ein. Diese Kluft zwischen der Materie einerseits, die von Physik und Biologie atomistisch interpretiert wird und deren 'Teile' (Atome, Zellen usw.) durch rein äußerliche Relationen verbunden betrachtet werden, und den Entitäten 'Geist' und 'Seele' andererseits, die selbst in der Philosophie nur noch als Randphänomene vorkommen, ist bis heute nicht geschlossen. Dabei läge es gerade an der Philosophie, diese künstliche Entgegensetzung zu überwinden und die Natur - und mit ihr auch den Menschen als leiblichen - nicht ausschließlich den Naturwissenschaften zu überlassen. Wer aber heute über Natur spricht, als wäre sie nicht bloß 'Objekt' bzw. vom Menschen so, als wäre er 'Natur', gilt als 'vorkritisch'-antiquiert und wird sowohl vom naturwissenschaftlichen Materialismus als auch von der auf bloße Erkenntnistheorie reduzierten Philosophie belächelt.
Dieser Attitüde zum Trotz wäre es gerade angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart, die im Kern auf eine Krise des modernen Natur- und Transzendenzverhältnisses hinauslaufen, geboten, eine Rehabilitation 'vorkritischer' Metaphysik und damit die Revitalisierung eines lebendigen Naturbegriffs in der Philosophie voranzutreiben. Dies aber würde eine Abkehr von der im Grunde seit 2000 Jahren vorherrschenden abendländischen 'Ideologie' bedeuten, die beiden Kontrahenten der Einheitsmetaphysik eigen ist - dem naturwissenschaftlichen Materialismus und dem epistemologischen 'Kritizismus'. Im Kern dieser 'Ideologie' steht die Vorstellung, der Mensch sei das einzige mit Geist und Seele begabte Wesen, oder als Konzession an die vorneuzeitlich-theistische Ausprägung formuliert: der Mensch sei die 'Krone der Schöpfung'. Diesem tief verwurzelten 'Trennungsdenken' gegenüber handelt es sich bei der Einheitsmetaphysik, die im Laufe der abendländischen Philosophiegeschichte ihre Versuche um Einflussnahme durchaus unternommen hat, um eine 'Verbundenheitsphilosophie', die, kurz gesprochen, das Wesen alles Von-Natur-aus-Seienden durch dessen Eingebundenheit in eine genealogisch-prozessuale Abfolge metaphysischer Instanzen bestimmt sieht. Zu dieser 'Kosmologie' und dem ihr inhärenten lebendigen Naturbegriff lässt sich, ohne hier im Einzelnen näher darauf eingehen zu können, im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Realismus (Subjekt-unabhängige Existenz der wahrgenommenen Erscheinungen als 'Substanzen' oder 'Prozesse') kommen, der metaphysisch zu einem objektiven Idealismus (Geist- und Seelenhaftigkeit aller Naturerscheinungen) und mit diesem zu einer Ethik der Anerkennung (der Natur) führt.
Es hat vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche Strömungen gegeben, die, angeregt nicht zuletzt durch die Revolutionen innerhalb der Physik selbst (Relativitätstheorie), den Versuch unternommen haben, die Philosophie in gewissem Sinne aus der übermächtigen Umklammerung der Naturwissenschaften sowie der kritizistischen Epistemologie zu befreien. Vor allem die Naturwissenschaften haben das 19. Jahrhundert in einer nie zuvor gekannten Weise geprägt und weit über die 'Wissenschaft' selbst hinaus gesellschaftsumbildende Wirksamkeit entfaltet. Im 20. Jahrhundert war es dann insbesondere die Phänomenologie, die sich nicht mehr mit dem 'objektiven' Blick und der Gegenstandskonstitution bzw. -konstruktion der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zufrieden geben wollte, sondern die ursprüngliche, der menschlichen Erfahrung entsprechende 'Lebenswelt' mit all ihren Verweisungszusammenhängen zu ergründen und damit 'zu den Sachen selbst', den hinter den naturwissenschaftlichen 'Objekten' befindlichen 'Phänomenen', vorzudringen trachtete. Zu sehr hatte bereits Bergsons Lebensphilosophie nicht nur in Frankreich eine unüberhörbare Resonanz unter den Intellektuellen hervorgerufen. Dennoch hatte die Phänomenologie in ihrer ursprünglichen Gestalt selbst etwas streng 'Wissenschaftliches' und Anti-Metaphysisches, auch weil man an der strikten Ausrichtung an den Bewusstseinsakten des perzipierenden Egos den zu beschreitenden Weg gesehen und sich damit in die cartesianische Tradition gestellt hatte. In dieser rationalistischen Verengung auf das cartesianische 'Ich', die insofern als 'wissenschaftlich' betrachtet wurde, als es um die systematische Herausarbeitung transhistorischer 'Wahrheiten' ging, war sie aber in doppelter Hinsicht zum Scheitern verurteilt. Für die romantische Opposition war die Phänomenologie ohnehin unbrauchbar, weil in ihr nicht minder als in den Naturwissenschaften selbst der gesamte metaphysische 'Schatz', den nicht zuletzt der Deutsche Idealismus hervorgebracht hatte, sowie auch das der reinen ratio entgegengehaltene Gefühl ignoriert wurden, und zum anderen verfehlte sie jenen Zeitgeist, der insbesondere nach den grauenvollen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nicht mehr an wissenschaftlichen Generalentwürfen interessiert war, sondern sich zunehmend der menschlichen Existenz zugewandt sah. Auch hatte bereits Freuds Psychoanalyse dem autonomen, vernünftigen Subjekt der Aufklärung seinen Garaus gemacht und psychische Tiefenschichten zutage gefördert, die ein Festhalten am rein denkenden 'Ich' der Erkenntnistheorie als wenig opportun erscheinen ließ.
Es war in diesem Sinne Heidegger, der die Phänomenologie seines Lehrers Husserl vor dem Hintergrund der aufkeimenden lebensphilosophischen Bedürfnisse für eine Erhellung des individuellen Lebensvollzugs im Sinne der 'Existenz' fruchtbar machen sollte - nicht aber, wie wir sehen werden, ohne selbst noch Ontologie als 'Wissenschaft' betrieben zu haben. Erst in seiner späten Phase kehrte er in mancherlei Hinsicht dem transzendentaltheoretischen Begründungsanspruch und damit dem Anthropozentrismus durch das Postulat eines objektiven 'Ereignisses' den Rücken. Seine 'Frühphilosophie' war dadurch geprägt, dass er zwar insofern an der Phänomenologie festhielt, als es ihm um 'tiefere' Verhältnisse als die naturwissenschaftlichen ging, allerdings tauschte er sowohl das 'Subjekt' als auch das Phänomen aus. Das 'Subjekt' sollte nicht mehr das transzendentale Ego überhaupt, sondern das konkrete, geschichtliche Dasein sein, und das Phänomen nicht mehr die Summe der lebensweltlich vorgefundenen Dinge, sondern das Sein. (Im Übrigen hatte sich zeitgleich auch die Malerei vom Naturalismus abgewandt und sich auf die Suche nach dem 'Geistigen' und 'Existenziellen' hinter den Gegenständen begeben.) - Das wirft nun die Frage auf, ob man angesichts der gegenwärtigen Zivilisationskrise, die als eine Krise des gesellschaftlichen Natur- und Transzendenzverhältnisses begriffen werden kann, verstärkt auf Heidegger rekurrieren sollte. Hat er nicht dem angesprochenen, im rationalistischen Substanzendualismus Descartes begründeten Anthropozentrismus (in impliziter Komplizenschaft mit jenem des Theismus) etwas Bedeutendes entgegengehalten? Hat er damit nicht das Ende des naturwissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die abgewertete, als 'tot' betrachtete äußere Natur (und damit ein Ende des vermeintlichen 'Fortschritts') gefordert?
Das mag für Heideggers 'späte' Philosophie und seine Technikkritik in gewisser Hinsicht zutreffen. Für den 'frühen' Heidegger gilt es, wie wir anhand einer Auseinandersetzung mit seiner Kritik an Descartes' Weltbegriff zu zeigen versuchen werden, nicht. Und zwar deshalb, weil sich Heideggers Frühphilosophie nicht aus der transzendentalphilosophischen Umklammerung gelöst hat und somit 'idealistisch' bleiben musste. Was wir demgegenüber bräuchten, wäre, so die These, gerade eine realistische, von einem beseelten Materiebegriff getragene und in diesem Sinne 'materialistische' Naturphilosophie, die eine weniger destruktiv wirksame Neuauslegung der Seinsstrukturen des subjektunabhängigen Von-Natur-aus-Seienden ermöglichte, um so über den Umweg der Etablierung eines neuen Naturverständnisses einen Beitrag zur Lösung der gegenwärtigen Gesellschaftskrise zu leisten, die auf einem antagonistischen Naturverhältnis basiert. In diesem Sinne wollen wir im Folgenden zwei Fragen stellen: 1. Wie sieht Heideggers Kritik am cartesianischen Weltbegriff aus? Und 2. Wie muss demgegenüber die einheitsmetaphysische Kritik an der fundamentalontologischen Auseinandersetzung mit der cartesianischen Substanzontologie aussehen? Eine gesonderte Erläuterung der zentralen Begrifflichkeiten aus 'Sein und Zeit' kann an dieser Stelle nicht erfolgen.
Heideggers Kritik an Descartes' Mensch- und Weltbegriff
Die einheitsmetaphysische Kritik am Substanzendualismus Descartes' hat stets betont, dass erst aufgrund der Reduktion der Natur auf ihr mechanistisches Substrat deren konsequente Ausbeutung und Zerstörung, wie sie den Kapitalismus kennzeichnet, möglich ist. Während Bacon mit seinem (noch an Qualitäten orientierten) Novum Organum als erster das Programm der uneingeschränkten 'Herrschaft des Menschen über das Universum' formulierte, war es Descartes vorbehalten, im Anschluss an Galilei die philosophische Letztbegründung dieses mechanistischen Paradigmas der neuzeitlichen Naturwissenschaft zu liefern. Für unsere Belange ist es wichtig festzuhalten, dass sich die einheitsmetaphysische Kritik an Descartes' Philosophie, weil sie – wie diese – auf das Seiende selbst bezogen bleibt, auf klassisch-metaphysischem, 'substanzontologischen' Boden abspielt. - Heidegger nämlich steht Descartes aus ganz anderen Gründen kritisch gegenüber: mit dessen Bestimmung des Menschen als res cogitans und der Welt als von Gott in ihrer 'Vorhandenheit' verbürgten res extensa begeht Descartes Heidegger zufolge zwei zentrale Fehler, die eine adäquate Thematisierung der von Heidegger so genannten fundamentalontologischen Seinsfrage, wie er sie in Sein und Zeit detailliert entfaltet, von vornherein verunmöglichen: zum einen, so Heidegger, gehe Descartes von jenem nivellierten Seinsbegriff aus, der bereits seit der klassischen antiken Philosophie darin bestehe, Sein als bloße 'Vorhandenheit' dessen zu betrachten, was im bloßen Hinsehen vorgefunden werde. Zum anderen führe er das so verstandene Sein in reduktionistischer Weise auf ein als Prinzip angesetztes Seiendes (Gott als ungeschaffene Substanz, als ens perfectissimum) zurück, aus dem das Sein des geschaffenen Seienden (der res cogitans und der res extensa als ens creatum) abgeleitet werde. Darin äußere sich die Missachtung der 'ontologischen Differenz', d. h. des Unterschieds zwischen dem Seienden und dem Sein, die Heidegger dem abendländischen Denken insgesamt vorwirft: dass nämlich das Sein aus etwas Seiendem (Gott) 'erklärt' wird, anstatt beim Sein zu bleiben und es als solches auszulegen, ohne dabei in einen ontischen Reduktionismus abzugleiten. Aufgrund dieser Verfehlungen – der Ausgangnahme beim nivellierten Seinsbegriff bloßer 'Vorhandenheit' sowie der Missachtung der 'ontologischen Differenz' – erklärt sich der unüberbrückbare Unterschied zwischen der Heidegger'schen und der cartesianischen Konzeption von 'Mensch' und 'Welt': während Heidegger fundamentalontologisch vom 'Dasein' in seiner faktischen Existenz ausgeht, um durch eine phänomenologische Auslegung des diesem wesenhaft zugehörigen vorontologischen Seinsverständnisses das Sein in seiner vollen Differenziertheit thematisch zu machen, muss Descartes aufgrund seines einförmigen Seinsbegriffs und der Reduktion der Möglichkeit von Erkenntnis auf bloße intellectio eine ontologisch präzise Bestimmung der spezifischen Seinsweise nicht nur des 'innerweltlich' zunächst Begegnenden, sondern des Seins des Menschen und mit dessen 'In-der-Welt-sein' das existenzial-ontologische Weltphänomen insgesamt verfehlen. Indem, so Heidegger, das Sein im 'Ich bin', dem 'sum' des cogito, der ersten Evidenz Descartes', lediglich ein bloßes Vorhandensein, d. h. das 'nackte Dass' der res cogitans meine, nicht aber zum Anlass genommen werde, die existenziale Verfasstheit des Daseins ontologisch präzise zu bestimmen, erweise sich der cartesianische Neuanfang, sein proklamierter 'Umsturz aller Meinungen', als Prolongation antiker und mittelalterlicher Versäumnisse.
Mit dem 'cogito sum' beansprucht Descartes, der Philosophie einen neuen und sicheren Boden beizustellen. Was er aber bei diesem 'radikalen' Anfang unbestimmt läßt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer der Seinssinn des 'sum'.
Sein und Zeit, S. 24
Die
Missachtung der ontisch-ontologischen Differenz kommt demnach dadurch zustande,
dass das Sein des geschaffenen Seienden vorschnell unter Rekurs auf Gott, d. h.
auf ein höchstes Seiendes, 'erklärt', nicht aber, wie es die phänomenologische
Sinnklärung erfordern würde, als solches, d. h. streng ontologisch, erörtert
wird – und das, obwohl zwischen Gott, dem ens
increatum, und dem geschaffenen Seienden, dem ens creatum, wie Heidegger betont, gerade hinsichtlich des Seins
ein unendlicher Unterschied besteht: "Zwischen beiden Seienden besteht ein
'unendlicher' Unterschied ihres Seins, und doch sprechen wir das Geschaffene
ebenso wie den Schöpfer als Seiende
an. Wir gebrauchen demnach Sein in einer Weite, daß sein Sinn einen
'unendlichen' Unterschied umgreift." (Sein und Zeit, S. 92) Während
sich im Rahmen der phänomenologischen Sinnklärung im Hinblick auf die verschiedenen
Seinsverfassungen der unterschiedlichen Regionen von Seiendem (Mensch, Tier, Natur,
Gott, Gebrauchsgegenstände usw.) abgründige Unterschiede offenbarten, sei vor
dem Hintergrund des bei Descartes zugrunde gelegten Seinsbegriffs bloßer
'Vorhandenheit' eine Differenzierung lediglich im Graduellen möglich. Dies
meint Heidegger, wenn er den Vorwurf äußert, Sein sei zum selbstverständlichsten
Begriff herabgesunken, dem in seiner Differenziertheit nicht länger nachgedacht
werde. So
kommt es bei Descartes also nicht nur zu einer ontologischen Fehlbestimmung der
Welt als res extensa, sondern es kann
darüber hinaus weder 'Dasein' noch 'Welt' bzw. 'Weltlichkeit' im Heidegger'schen
Sinne, d. h. als existenzial-ontologische Phänomene, geben. Weil Descartes den
Menschen unter Zugrundelegung seines einförmigen Seinsbegriffs ('Substanzialität')
analog zur 'Welt' als res – nämlich
als 'denkendes Ding' – fasst, ist eine angemessene Ontologie des Daseins von
vornherein so unmöglich wie eine adäquate Inblicknahme des existenzialen
Weltphänomens. Während die 'Welt' bei Heidegger gleichsam als Scharnier zwischen
dem Dasein als 'In-der-Welt-Sein' und dem in dieser 'Welt' begegnenden Seienden
fungiert, um damit das Feld abzugeben, auf dem die hermeneutische
Phänomenologie die Seinsstrukturen hebt, übergeht Descartes mit dem
fundamentalontologischen Weltphänomen zugleich das ursprüngliche Sein des in
dieser 'Welt' begegnenden Seienden. Im Unterschied zum stimmungsmäßig
'befindlichen' Dasein Heideggers ist der cartesianische Mensch als 'Denkding' nämlich
nicht bereits 'vorwissenschaftlich', d. h. im Rahmen des alltäglichen
Lebensvollzugs bzw. des diesen tragenden Seinsverständnisses (= über die Weisen
des In-seins 'Befindlichkeit', 'Verstehen' und 'Rede') beim Sein des Seienden,
sondern meint, sich über den Umweg des künstlichen Zweifels vorerst seiner
bloßen 'Vorhandenheit' versichern zu müssen, um anschließend, vermittelt über
reine intellectio und kategoriale
Zuweisungen, auch die 'Vorhandenheit' des Nicht-Ichhaften zu fixieren. Heidegger
zufolge aber wird im Grunde auch jenes Seiende, das Descartes mit der extensio zu fassen versucht, erst im
Durchgang durch ein zunächst 'zuhandenes' 'innerweltliches' Seiendes entdeckbar,
sodass er zum Schluss gelangen kann, "daß Descartes nicht etwa nur eine
ontologische Fehlbestimmung der Welt gibt, sondern daß seine Interpretation und
deren Fundamente [die Ausgangnahme beim nivellierten Seinsbegriff bloßer
'Vorhandenheit', Anm. M.B.] dazu führen, das Phänomen der Welt sowohl wie das
Sein des zunächst zuhandenen innerweltlich Seienden zu überspringen." (Sein und Zeit, S. 95) Mit
diesem 'Überspringen' korreliert der mathematisch vermittelte Zugang des
cartesianischen Ichs zur Dingwelt, der von der hermeneutisch-phänomenologischen
Warte Heideggers, die von der 'Befindlichkeit' im Sinne des 'In-der-Welt-Seins'
ausgeht, unangemessen erscheint.
Was nun aber wäre aus Sicht der Einheitsmetaphysik, die das neuzeitliche Methodenideal ebenfalls kritisiert, zu dieser fundamentalontologischen Kritik am cartesianischen Mensch- und Weltbegriff zu sagen? Immerhin erscheint Heideggers Philosophie auf den ersten Blick als radikale Kritik an der neuzeitlichen Subjektivitätsvorstellung, die ihrerseits die Grundlage für die technisch-anthropozentrische Weltbemächtigung bildet.
Die einheitsmetaphysische Kritik der Heidegger'schen Descartes-Kritik
Im Unterschied zu dieser fundamentalontologischen Kritik Heideggers am mathematischen Methodenideal, die vornehmlich auf das daseinsmäßige, transzendentalphilosophisch generierte Sein abzielt, gilt das rationalistische Umgehen der Sinne aus einheitsmetaphysischer Perspektive als probates Mittel des 'reinen' Rationalismus, um die unmittelbar erfahrbaren Seinsstrukturen alles Von-Natur-aus-Seienden ('objektives' Sein) a priori zu unterminieren bzw. unter Verweis auf fragwürdige erkenntnistheoretische Annahmen als 'obskure Größen' zu disqualifizieren. Auf der Makroebene gehört zu dieser phänomenalen Gegebenheit v. a. der zyklische Seinsverlauf im Sinne des unaufhörlichen Werdens und Vergehens alles Von-Natur-aus-Seienden, das als natura naturata unmittelbar auf die hervorbringende Dimension derselben Natur insgesamt als natura naturans verweist. Diese wird als eine Art 'Mutter' begriffen, deren fortlaufendes Gebären als conditio sine qua non in Bezug auf das Sein des Seienden alle ontologischen Fragestellungen (auch die fundamentalontologische, weil das Dasein nicht aus dem Nichts kommt [!]) prädeterminieren muss. Gerade hier aber, in Bezug auf die vorlaufenden Seinsstrukturen des physischen Weltphänomens, der Natur als Grundvoraussetzung allen menschlichen Daseins, scheint Heidegger der cartesianischen Leibfeindlichkeit um nichts nachzustehen; nicht aber, weil er den Leib und die leibliche Dimension des Daseins in Anlehnung an die abendländische Tradition negativ besetzt und damit herabwürdigen würde, sondern – schlimmer: weil er sie schlicht ignoriert. So kommt in Heideggers Philosophie, sowohl der frühen als auch der späten, trotz aller 'Faktizität' und 'Existenz', das primäre Faktum der Geburt nicht vor, ja das Dasein erscheint – und darin besteht die Parallele zu Descartes, der sein eigentliches Ich eher als von Gott als von seinen Eltern abgeleitet wissen will – als ein ungeborenes, gleichsam aus dem Nichts in die einzig mögliche, die existenzial-ontologische 'Welt' hineingeworfenes Geistwesen. Zwar legt Heidegger innerhalb der 'Gemütsausstattung' dieses Geistwesens den Schwerpunkt auf die Gestimmtheit im Sinne der 'Befindlichkeit' sowie das 'Verstehen' und bietet damit einen bedeutsamen Kontrapunkt zur abendländischen Fixierung auf das ungetrübte Denken und Urteilen, doch bleibt in seiner Phänomenologie die leibliche Dimension des Menschseins als für den Philosophen wohl zu 'vulgäres' Phänomen auf der Suche nach dem fundamentalontologischen Sein auf geradezu groteske Weise unthematisch. So könnte man mit seinem Schüler Günther Anders, dem zugleich bedeutendsten und schärfsten Kritiker Heideggers, protestieren:
Glatt unterschlagen ist […] die Tatsache, daß wir gezeugt und geboren sind; und es ist dabei H.s [Heideggers] persönliches ontologisches Unglück, daß er, um die faktische Herkunft jedes menschlichen Daseins zu verbrämen, versehentlich gerade auf einen animalischen Ausdruck verfiel – denn 'geworfen' nannte man vor ihm nur Hunde oder Katzen.
Über Heidegger, S. 292f
Diesen Differenzen zum
trotz besteht die Gemeinsamkeit zwischen der Heidegger'schen
Fundamentalontologie und der einheitsmetaphysischen Naturphilosophie in der
prinzipiellen Opposition zum mathematischen Methodenideal der neuzeitlichen
Naturwissenschaft und damit zur Subjektphilosophie Descartes'. Während die Einheitsmetaphysik aber zu einem neuen Verständnis der Natur gelangen
will und damit – formal betrachtet – auf dem 'substanzontologischen' Boden
Descartes' verbleibt, um inhaltlich selbstredend diametrale Positionen zu
vertreten (Monismus statt Dualismus), geht es Heidegger um eine fundamentalontologisch-transzendentalphilosophische
Phänomenologie des Daseins sowie des 'innerweltlich' Seienden. Klar ist, dass
vor dem Hintergrund eines derart philosophiespezifischen Vorhabens ungleich
schwerer jene gesellschaftstheoretische
Relevanz entwickelt werden kann, die die einheitsmetaphysische 'Weltauffassung' schon deshalb besitzt, weil die Moderne bzw. der Kapitalismus sein utopisches (bzw. dystopisches) Naturtransformationsvorhaben nur auf der Basis einer ganz bestimmten
Ideologie, gegen die sich die Einheitsmetaphysik wendet, in
Angriff nehmen kann. So werden anhand einer Ontologie, sei sie auch
'substanzontologisch', im Rahmen der einheitsmetaphysischen Naturphilosophie nicht nur
die Seinsstrukturen, sondern zugleich und v. a. auch die Verhaltensweisen und impliziten Zielvorgaben des
modernen Gesellschaftsbetriebs insgesamt in ihrer Tiefenstruktur analysiert.
Zudem bietet die einheitsmetaphysische Naturphilosophie eine Art Kontrastfolie für die
Bewertung der abendländischen Metaphysikgeschichte
in ihrer Entwicklungsdynamik (zunehmende Entfernung von deren Inhalten) und damit die Möglichkeit der Formulierung einer
neuen, spezifischen Geschichtsphilosophie.
In den Ausführungen zum europäischen Nihilismus in Nietzsche II (vgl. auch GA 48) rückt Heidegger dann auch, was die geschichtsphilosophische Relevanz Descartes' und der Moderne insgesamt betrifft, in die Nähe einer solchen Geschichtsphilosophie, indem nicht mehr so sehr das Entwurfhafte und damit das fundamentalontologische Unterfangen im Zentrum stehen, sondern seinsgeschichtlich von der je epochalen Geworfenheit des nunmehr ek-sistierenden Menschen in ein vom Sein geschickhaft 'ereignetes' Weltverständnis ausgegangen wird. Mit dieser Abkehr vom Ideal begründungstheoretischer Wissenschaftlichkeit verlässt Heidegger endgültig auch den Boden der Fundamentalontologie aus Sein und Zeit, die – wie Descartes, Kant oder Husserl – im Subjekt (dem Dasein) noch den allgemeinen transzendentaltheoretischen Auslegungshorizont, d. h. die 'Bedingungen der Möglichkeit' der Seinserhellung und damit die Möglichkeit der Generierung transhistorisch gültiger Allgemeinaussagen im Sinne von Ontologie gesehen hat. Phänomene wie 'Erschlossenheit' und 'Verschlossenheit' werden jetzt nicht mehr dem mehr oder weniger 'eigentlich' existierenden Menschen zur Last gelegt, sondern gründen als 'Entbergung' und 'Verbergung' im Seinsgeschick selbst, das zugleich Weltgeschick ist. Damit tritt die Einzigartigkeit des 'Ereignisses' der abendländischen Metaphysik an die Stelle der vormaligen Phänomenologie des Daseins und dessen Entwurfhaftigkeit. Von einer formalen Annäherung des 'gekehrten' Denkens Heideggers an die 'substanzontologisch' orientierte Naturphilosophie im Sinne einer Rückkehr zum 'vorkritischen' Philosophieren kann dennoch nicht die Rede sein; das seinsgeschichtliche Denken bleibt eine Heidegger'sche Genuinität, ein Denken sui generis. Statt den transzendentalphilosophischen Boden rückwärtsgewandt zu verlassen, tritt er, wenn man so will, die Flucht nach vorne an, indem er lediglich eine neue Dimension in Bezug auf das Wahrheitsphänomen eröffnet: so wie er im Wahrheitskapitel von Sein und Zeit (§44) der traditionellen Wahrheitstheorie, der von der adaequatio intellectus et rei ausgehenden Adäquationstheorie, das ursprüngliche fundamentalontologische Wahrheitsphänomen – den freien, entwurfhaften Handlungsvollzug des Menschen, in dem sich die Phänomene lichten – als ermöglichende Dimension zugrunde legt, so legt er in der Schrift Vom Wesen der Wahrheit (aus dem Jahr 1930) diesem freiheitlichen Handlungsvollzug des Menschen (dem Entwurf) als ermöglichende Dimension die bereits vorlaufende Offenheit und Gelichtetheit von Welt zugrunde (Welt konstituiert sich jetzt nicht mehr im menschlichen Freiheitsvollzug, sondern das menschliche Verhalten ist offenständig, es steht ek-sistierend in der vom Sein selbst geschickten Lichtung). So wird aus dem 'Wesen der Wahrheit', dem Freiheitsvollzug des Daseins als ermöglichender Dimension der Adäquationstheorie, die 'Wahrheit des Wesens' im Sinne der Abhängigkeit dieses Freiheitsvollzugs von der je epochalen Geworfenheit des Daseins in eine vom Sein bereits gelichtete Welt ('Wesen' hier als substantiviertes Verbum, das auf das Prozesshafte des singulären Ereignisses der abendländischen Metaphysik als Seinsgeschick verweist).
Das für uns Interessante besteht dabei darin, dass es aufgrund dieser 'Kehre' im Denken Heideggers, das nun nicht mehr so sehr am einzelnen Dasein hängt und folglich in der Lage ist, die für die einheitsmetaphysische Sichtweise so zentrale, geschichtsphilosophisch relevante Makroebene (Neuzeit = Naturbeherrschung, Anthropozentrismus etc.) in den Blick zu nehmen, trotz formaler Unterschiede, auf inhaltlicher Ebene zu verblüffenden Parallelen zur intendierten Geschichtsphilosophie kommt. So kritisiert Heidegger mit dem neuzeitlichen Subjekt, das seit Descartes nicht nur anthropozentrisch mit dem Menschen, sondern im Sinne der Metatrennung von Geist und Natur (Materie) spezifischer: mit dem menschlichen 'Ich' gleichgesetzt wird, zugleich seinen eigenen fundamentalontologischen Ansatz. Vom 'gekehrten' Denken aus gilt die Kritik damit nicht länger lediglich der Transhistorizität des cartesianischen ego, das Heidegger in Sein und Zeit zugunsten des faktischen, endlichen Daseins aufgibt, sondern, ganz im Sinne der Einheitsmetaphysik, dem aus dieser Zuspitzung auf das cartesianische ego folgenden Herrschaftsanspruch über die Natur bzw. das Universum insgesamt, wie bereits Bacon in seiner Utopie phantasierte. So fragt Heidegger nun: "Woher entspringt jene alles neuzeitliche Menschentum und Weltverständnis lenkende Herrschaft des Subjektiven? Diese Frage ist berechtigt, weil bis zum Beginn der neuzeitlichen Metaphysik mit Descartes und auch noch innerhalb dieser Metaphysik selbst, alles Seiende, sofern es ein Seiendes ist, als sub-iectum begriffen wird. Sub-iectum ist die lateinische Übersetzung und Auslegung des griechischen hypokeimenon und bedeutet das Unter- und Zugrunde-liegende, das von sich aus schon Vor-liegende. Durch Descartes und seit Descartes wird in der Metaphysik der Mensch, das menschliche 'Ich', in vorwaltender Weise zum 'Subjekt'." (Nietzsche, GA 6.2, S. 124) Dieser zum Egozentrismus radikalisierte Anthropozentrismus, der mit Descartes anhebt und im Rahmen der 'kopernikanischen Wende', der bewusstseinsphilosophischen Revolution Kants, zum endgültigen Durchbruch gelangt, ist für das Verständnis des modernen Herrschaftsanspruchs über die Natur, den Bereich des 'Nicht-Subjektiven', wie er sich zu Beginn der Neuzeit herausbildet, unerlässlich.
Worin liegen also die Differenzen zwischen der Heidegger'schen Frühphilosophie und der 'substanzontologisch' orientierten, einheitsmetaphysischen Naturphilosophie?
Zum einen geht es der einheitsmetaphysischen Naturphilosophie vor dem Hintergrund dessen, dass wir uns in einer bis ins Äußerste zugespitzten Naturkrise befinden, die im Kern auf die Utopie einer maschinentechnisch-kapitalistischen Welt-neu-'Schöpfung' zurückzuführen ist, weniger um das Sein im Sinne der philosophiespezifischen, gesellschaftstheoretisch weitgehend irrelevanten Seinsfrage Heideggers, sondern um das Seiende selbst – v. a. in Gestalt des Von-Natur-aus-Seienden, das angesichts der Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie zusehends unter die Räder des sog. 'Fortschritts' gerät. Für die Einheitsmetaphysik steht so gesehen keine existenzial-ontologische Neuauslegung des als unveränderlich und in seiner Unversehrtheit unproblematisiert vorausgesetzten Seienden im Zentrum, sondern die Sorge um dessen Möglichkeit des Weiterbestehenkönnens angesichts der Gefahr, die von der technisch-ökonomischen Basis des kapitalistischen Gesellschaftssystem ausgeht. Geht es der einheitsmetaphysischen Naturphilosophie über diese Sorge um das Seiende hinaus, die zudem wenig mit der existenzphilosophischen Sorge des einzelnen Daseins um seine jeweilige Möglichkeit des Eigentlichseinkönnens zu tun hat, dennoch um das Sein, so handelt es sich dabei weniger um das transzendentalphilosophisch generierte Sein-für-den-Menschen, d. h. um das Sein, insofern es aus der Sicht des Subjekts (des Daseins) für dieses betrachtet wird, sondern im vorkantianischen Sinne um das 'metaphysisch' interpretierte Sein als 'Substanz'. So gesehen kann man konstatieren, dass sich die einheitsmetaphysische Naturphilosophie formal betrachtet durchwegs auf dem 'substanzontologischen' Boden der vorkantianischen und d. h. u. a. auch der cartesianischen Metaphysik befindet – mit dem Unterschied allerdings, dass sie inhaltlich zu diametralen Positionen gelangt (Monismus). Aus dieser formalphilosophischen Gemeinsamkeit heraus ergibt sich auch der Umstand, dass sie nicht jedem Kritikpunkt, den Heidegger gegenüber Descartes vorbringt, nur Positives abgewinnt: Wenn Heidegger bspw. den Vorwurf äußert, Descartes missachte, weil er die res cogitans unter Anwendung der mittelalterlichen Schöpfungsontologie als ens creatum fasse und damit das Sein des Geschaffenen in einem höchsten Seienden (Gott) aufhebe, gemeinsam mit der gesamten Philosophietradition die 'ontologische Differenz', so ist aus einheitsmetaphysischer Perspektive einzuwenden, dass eine solche nach Heidegger unzureichende 'Onto-Theologie' mindestens den Vorteil hat, dass sie (sofern sie die Natur selbst mit dem Göttlichen gleichsetzt – Pan(en)theismus) den Blick auf das Hervorbringen freimacht, auf das unmittelbar gegenwärtige Faktum der Geburt, die Natalität alles Von-Natur-aus-Seienden, d. h. auf das physische archein, den einheitsmetaphysischen Prozess – auf jenes ursprüngliche 'Ereignis', das selbst noch das Fundament der sog. Fundamentalontologie bildet, weil ohne Geburt kein Dasein möglich ist. Im Unterschied zur Heidegger'schen Kritik am cartesianischen Methodenideal, die vornehmlich das Überspringen des daseinsmäßigen, transzendentalphilosophisch generierten Seins moniert, zielt die einheitsmetaphysische Kritik sowohl an der cartesianischen als auch der Heidegger'schen Subjekt- bzw. Daseinsphilosophie v. a. auf das Herabwürdigen bzw. Ignorieren des Seins der subjektunabhängigen Natur als solcher, d. h. auf das Ignorieren der unmittelbar erfahrbaren, vorlaufenden, gerade nicht-daseinsmäßigen Seinsstrukturen alles Von-Natur-aus-Seienden ab: Heidegger ignoriert die Natur und damit das nicht-daseinsmäßige Sein vor dem Hintergrund seiner fundamentalontologischen Seinsfrage überhaupt, bei Descartes kommt die Natur zwar vor, ihr Sein aber wird vor dem Hintergrund des aufkommenden Materialismus und der ihm inhärenten Notwendigkeit, alles Von-Natur-aus-Seiende mathematisch beherrschen zu müssen, dualistisch statt monistisch interpretiert.
Wenn so gesehen der 'frühe' Heidegger bspw. betont, mit der Zeuganalyse, d. h. der phänomenologischen Aufschlüsselung der Beziehung des Daseins zu seinem 'Zeug', könne das Wesentliche, das ursprüngliche Wahrheitsphänomen, erhellt werden, dann ist aus einheitsmetaphysischer Perspektive immer schon zu fragen, inwiefern denn das innerhalb dieser Zeuganalyse begegnende 'Zeug' nicht womöglich bereits ein Erzeugnis der kapitalistischen Transformationsmaschinerie, ein Produkt jenes tieferen, geschichtsphilosophischen 'Wahrheitsphänomens' ist, das dem fundamentalontologischen vorausgeht und sich historisch manifestiert in der neuzeitlich-modernen, maschinentechnisch-kapitalistischen Transformation alles Von-Natur-aus-Seienden in Maschinenhaftes. Zum anderen ist auch nach den spezifischen Unterschieden zu fragen, die zwischen den Heidegger'schen Werkzeugen und der modernen Maschine bestehen. Entfernt man sich nämlich von der ländlichen Schusterwerkstatt Heideggers, dann dürfte man, wie auch Anders betont, rasch zur Einsicht gelangen, dass gerade in der modernen Technik die Entfremdung, nicht aber der Schlüssel zum ursprünglichen Wahrheitsphänomen liegt:
In Wirklichkeit ereignet sich das Sich-Aufschließen des 'Zeug' nur in solchen Akten, deren 'Vermittlung' höchst einfach ist, wo also der Produzent und das Produkt, der 'Benutzer' und das 'Benutzte', der Verbraucher und das Gut eine simple, übersehbare Funktionseinheit bilden, wie etwa beim Schustern oder Apfelessen. Die Bedienung einer modernen Maschine erschließt diese durchaus nicht; ihre 'Entfremdung' ist in die gegenwärtige Gesellschaft und ihre Arbeitsteilung offensichtlich miteinkalkuliert. Schon dies […] Beispiel beweist, daß dort, wo Heidegger anscheinend 'konkret' oder 'pragmatisch' wird, er ganz altertümlich ist, […] denn seine ganzen Beispiele stammen aus der ländlichen Schusterwerkstatt. Die Entfremdung, die gerade durch die angeblich 'aufschließenden' Geräte produziert wird, ist ihm fremd.
Über Heidegger, S. 80
Entfremdung ist bei Heidegger in diesem Sinne niemals konkret und von
unmittelbarer gesellschaftstheoretischer Relevanz, sondern tritt in einer
eigentümlichen 'Verkopfung' auf bzw. in "einer harmlosen Verbrämung, als eine
'metaphysische Entfremdung', z. B. als sogenanntes 'Nichten' der Welt." (Über Heidegger, S. 80) Was aber ist mit dem realen Hunger, dem Tod Hunderttausender, der Zerstörung der Natur, der Maschine, der Fabrik, der Kategorie
des Geschlechts? Heideggers Frühphilosophie ist für die einheitsmetaphysische Weltauffassung, die zugleich eine Gesellschaftstheorie darstellt, gerade deshalb so unbrauchbar, weil in ihr, wie in der
Existenzphilosophie allgemein, angesichts der transzendentaltheoretischen
Vorgabe nichts 'Materielles' Platz hat und deshalb Kategorien wie Hunger,
Sexus, Klasse, Fabrik usw. keine Rolle spielen dürfen. "Überall, wo Heidegger
pragmatisch zu werden scheint, bleibt er in einer anfänglichen
Pseudo-Konkretheit stecken. Zwar hat sein Dasein im Unterschied zu den
Transzendentalphilosophien Kants oder Husserls, die vom transhistorischen ego abseits aller Konkretion ausgehen,
einen phantastischen Reichtum und es erscheint sehr konkret, aber der gesamte
Reichtum ist eben in Hegelschem Sinne 'aufgehoben'. Das Dasein ist zwar sehr
beschäftigt: es hämmert und schusterst herum und 'versteht' in dieser Sorge
seine Leisten. Aber warum es sich
herumsorgt: die Quelle der Sorge erwähnt er [Heidegger, Anm. M.B.] höchstens
beiläufig und ohne philosophische Konsequenzen daraus zu ziehen, da sie eben
kein 'Können' des Daseins ist." (Über Heidegger, S. 63) In Wirklichkeit nämlich ist, wie Anders betont, die Quelle der Sorge der
Hunger, der uns auf uns selbst als leibliche, zutiefst naturabhängige Wesen verweist,
die mit dem in-der-'Welt'-seienden Dasein Heideggers als unleiblichem
Geistwesen der Existenzialanalytik nichts gemein haben. Unter diesem Aspekt
betrachtet ist der 'frühe' Heidegger im banalsten und schockierendsten Sinne
weltfremd, idealistisch, naturblind. Er kennt nur die nächste Umwelt des
Hantierens, seine zivilisierte Werkstatt – die Mächtigkeit der rohen Wildnis
wird konsequent unthematisch belassen. Überhaupt ist zu sagen, dass Heideggers
'natürlicher' Weltbegriff der unnatürlichste ist, den man haben kann, und man
muss schon Philosoph sein, um ihn zu ersinnen –
da stimmt auch Karl Löwith zu, wenn er an Heidegger persönlich
adressiert:
Was man auf diese Weise entdeckt, ist immer nur das, was Sie die 'Umweltnatur' unserer nächsten Welt nannten. Nur diese nächste Welt läßt sich in überzeugender Weise als eine 'Bewandtnisganzheit' von Verweisungszusammenhängen darstellen, die alle auf ein 'Umwillen' verweisen, von dem aus sich alle Dinge der Umwelt im Sinne eines Umzu und Dazu, Woraufhin, Womit und Wozu strukturieren. Sobald man aber seine vier Wände und seinen Wohnort und das geschichtliche Land und Volk, zu dem man zufällig gehört, verläßt und aus der Zivilisation heraustritt, erschließt sich möglicherweise auch dem heutigen Höhlenbewohner der geschichtlichen Menschenwelt die elementare Gewalt und die eintönige Größe der Welt, die nicht die unsere ist und die nicht auf uns als ihr 'Umwillen' verweist, sondern nur auf sich selbst.
Heidegger - Denker in dürftiger Zeit, S. 287f
Was Heideggers Analysen in diesem Sinne fehlt, ist, wie Günther Anders betont,
die Tatsache, "daß wir nicht nur 'In-der-Welt-Sein' sind, sondern selbst Welt – jawohl, so skandalisierend, so
'materialistisch' das klingen mag, das hilft nichts –, daß wir Stücke der Welt sind." (Über Heidegger, S. 292) "Denn in Wahrheit ist das Dasein 'Sorge', weil es Hunger ist. Das heißt: trotz aller Heideggerschen Beteuerungen ist
der Mensch so ontisch, daß er sich Ontisches einverleiben muß, um ontologisch,
nämlich 'da' zu sein." (Über Heidegger, S. 63) Das eigentliche Fundament wird so gesehen
nicht in der Heidegger'schen Fundamentalontologie zum Ausdruck gebracht, sondern
in der einheitsmetaphysischen Naturphilosophie als Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftstheorie. Hier hat der Leib seinen Platz, hier wird das physische
Hervorbringen, das archein im Sinne
der Geburt zum Thema. Hier wird alles Von-Natur-aus-Seiende als natura naturata begriffen,
hervorgebracht von derselben Natur insgesamt als natura naturans, der 'Großen Mutter', die als Einheit sich
durchhält im zyklischen Seinsverlauf des unaufhörlichen Werdens und Vergehens.
Durch die Nichtausklammerung des sinnlichen Vernehmens begegnet hier neben dem
Geborenwerden auch das Vergehen im Sinne des Todes. Dieser kommt bei Heidegger zwar
vor, allerdings wieder nur als existenzial-ontologisches Phänomen – über die panentheistische Seinsstruktur des gesamten Kosmos wird, obwohl durch die Sinne
unmittelbar gegenwärtig, nichts berichtet. Darin bestünde ja die eigentliche Opposition
zu Descartes und der Moderne insgesamt, nicht so sehr in der Suche nach dem
daseinsmäßigen Sein. Gerade der Tod nämlich zeigt an, wie sehr wir selbst Natur
sind, sterbliche, leibliche natura
naturata, oder, um in der Terminologie Heideggers zu bleiben, nicht nur
Dasein, sondern vor allem und als absolute Basis: 'Vorhandensein'.
In Wirklichkeit nämlich muss das nicht-daseinsmäßige Sein immer die Basis des
Daseins sein. "Dessen Finitheit, die H. zum Angelpunkt seiner Daseinsanalyse
macht, 'verdankt' es [gerade] der Tatsache, daß Dasein auch ein Stück Welt ist,
also gerade dem nichtdaseinshaften Element des Daseins; bzw. der Tatsache – man
entschuldige diese komisch klingende Paraphrasierung des Sterbens – daß Dasein
in Nichts-als-vorhanden-Sein umschlagen
kann. Offenbar siegt, wenn wir sterben, unser Vorhandensein (oder gerade nicht
'unser') über unser Dasein. – Was solch ein Umschlagen freilich metaphysisch
bedeutet, erwähnt H. trotz der Breite seiner Todesdiskussion nicht. Es ist, als
hielte ihn die pedantische Scheu vor einer metabasis
([Umschlagen, Grenzüberschreitung] aus einer Seinsart in die andere) davor
zurück, sich auf 'Dialektik' einzulassen. Nirgends spricht er eindeutig aus,
daß er durch die Rolle, die er dem Tode zuweist, gerade das nichtdaseinsmäßige Sein zum Schlüssel
des Daseins gemacht hat; daß also von einer 'immanenten' Daseinsanalyse gar
keine Rede sein kann. Nirgends, daß wir, sofern wir sterblich sind, eben immer
auch schon Vorhandene waren – und daß das Dasein eben nur auf dem Grunde der
Vorhandenheit ist und möglich ist … eine Tatsache, die die heute abgenutzteste
Leib-Seele-Theorie mit Recht zum Anlaß ihrer endlosen Spekulationen gemacht
hat." (Über Heidegger, S. 295) Trotzdem bleiben bei Heidegger der Leib und die
Natur das größte Tabu. "So bleibt z. B. in beiden
Phasen, obwohl in beiden der Mensch vorkommt, des Menschen Leib unerwähnt. Ebenso die
Tatsache seiner Geschlechtlichkeit; überhaupt seine Animalitas und die
Tatsache, daß es neben ihm Tiere, ja ihm 'verwandte' Tiere gibt." (Über Heidegger, S. 296) Vielmehr wird bei Heidegger eine tiefe Kluft zwischen Mensch und Tier
installiert, so tief, dass diese rein gar nichts mehr miteinander zu tun haben.
Nie zuvor hat es einen solchen Anthropozentrismus gegeben, niemals hat der Mensch (dem 'das Wesen des Göttlichen' vielleicht 'näher' stehe als 'das Befremdende der Lebe-Wesen') eine ausdrücklichere Sonderstellung erhalten als hier. Keine antike oder christliche Philosophie hat Tier und Leib je in solchem Maße ignoriert wie H. Sie mögen den Leib verachtet haben, verflucht, geschlagen – aber unterschlagen wird er erst hier.
Über Heidegger, S. 297
Auch Löwith betont - ganz im Sinne der einheitsmetaphysischen Position -, dass die
antike Fassung des Menschen als animal
rationale, weil sie immerhin noch die Nabelschnur zur Natur impliziert,
gegenüber der anthropozentrischsten aller Fassungen, d. i. neben dem 'Dasein'
auch der spät-Heidegger'sche 'Hirte des Seins', zumindest "den Vorzug hat, daß
sie den Menschen nicht eindeutig, einheitlich und einseitig durch Seele und
Geist oder Bewußtsein und Existenz oder als 'Da' des Seins bestimmt, sondern
als einen leibhaftigen Zwiespalt von Animalität und Rationalität." (Denker in dürftiger Zeit, S. 281) Nicht umsonst moniert er in seiner viel beachteten Rede Die Natur des Menschen und die Welt der Natur anlässlich des 80.
Geburtstags Heideggers im Jahr 1969 das Fehlen der Natur im Konzept der
Fundamentalontologie aus 'Sein und Zeit'.
Diesem Einwand, der uns als Schlusswort dienen soll, ist nichts hinzuzufügen:
Was ich demgemäß an der existenzial-ontologischen Fragestellung vermißte, war die Natur – um uns herum und in uns selbst. Wenn aber die Natur fehlt, dann fehlt nicht ein Seiendes oder ein Seinsbereich unter anderen, sondern das Ganze des Seienden in seiner Seiendheit ist verfehlt und läßt sich nicht nachträglich zur Ergänzung hereinholen. Denn was sollte die Natur sein, wenn sie nicht die eine Natur alles Seienden ist, deren Hervorbringungskraft alles, was überhaupt ist, also auch den Menschen, aus sich hervorgehen und wieder vergehen läßt. In Sein und Zeit schien mir die Natur im existenzialen Verständnis von Faktizität und Geworfenheit zu verschwinden.
Heidegger - Denker in dürftiger Zeit, S. 280
Literatur:
Anders, Günther: Über Heidegger, C. H. Beck, München 2001
Descartes, René: Meditationen über die Erste Philosophie, Reclam, Stuttgart 1986
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Max Niemeyer, Tübingen 2006
Löwith, Karl: Heidegger - Denker in dürftiger Zeit, Sämtliche Schriften 8, Metzler, Stuttgart 1984